Donnerstag, 19. April 2007
Folge 6: Die beiden Mütter
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

Mein Buch bei Rohnstock Biografien
Mein Blog bei Rohnstock Biografien

Von 1930 bis 1932 besuchte ich die Dorfschule in Limmritz. Als ich sieben Jahre alt war, sagte meine Lehrerin Fräulein Fiebig zu meiner Großmutter: ››Sie müssen Lotte in eine andere Schule nach Küstrin geben. Dort leben doch auch ihre Eltern. Hier in der Dorfschule ist sie unterfordert. Sonst sehe ich nur die Möglichkeit, daß ein Lehrer für sie Förderstunden abhält!‹‹
Ich war zwar nicht hochbegabt, doch ich lernte schnell und hatte viel Spaß am Unterricht. Obwohl meine geliebte Großmutter, Onkel Franz und Tante Anna baten und bettelten, daß ich bleiben sollte, zog es mich in die neue Schule nach Küstrin.
Weihnachten 1931 wurde ein großer Familienrat einberufen. Dazu gehörten meine leiblichen Eltern, Fabers, meine Großmutter und meine Lieblingstante Mia aus Berlin. Sie überlegten lange, ob sie mich in einem Internat oder bei einer Familie unterbringen sollten. Das war so üblich. In der Militärstadt Küstrin wohnten viele Kinder aus den umliegenden Dörfern bei Offizierswitwen.
Nach langen Diskussionen entschied mein Vater Otto energisch: ››Lotte kommt zu uns!‹‹
Ich zog mit Begeisterung nach Küstrin. Groß und stark schienen meine Flügel zu sein. Ich bedachte nicht, wie sehr mich die geliebten Menschen vermissen würden.
Meine Freude in Küstrin dauerte nur kurze Zeit. Bald wurde mir bewußt, in welch zerrissener Familie ich von nun an leben sollte. Ich wohnte zwar bei meinen leiblichen Eltern, aber ich hatte sie bislang kaum kennengelernt. Als sie mich 1924 nach Limmritz weggegeben hatten, war ich erst sieben Monate alt, zu jung, um mich an sie zu erinnern. Später waren wir uns immer nur kurz begegnet, wenn sie zu Besuch nach Limmritz kamen.
Mit ihnen zusammenzuleben, war etwas anderes. Mir wurde schnell klar, daß ihre Ehe nicht glücklich war. Ich erkannte die Dunkelheit und die Lieblosigkeit in ihrem Leben - und in meinem Elternhaus. Wie sehr vermißte ich die Liebe und die Harmonie, die mein Leben in Limmritz geprägt hatten! Wo war meine alte Heimat geblieben? Meine Flügel sanken herab. Ich sehnte mich so sehr nach meiner Großmutter-Mutter, nach Anna und Franz.
Mein Vater Otto ging an den Abenden aus dem Haus. Meine Mutter schimpfte. Zu recht? Zu unrecht? Ich konnte es nicht herausfinden. Nachts hörte ich Worte, die voller Grauen waren. Der Zwiespalt brach auf - der Zwiespalt zwischen Vater und Mutter. Warum stritten sie sich? Warum liebten sie sich nicht? Ich ängstigte mich. Meine jüngere Schwester Gerda konnte mich nicht trösten. Sie schlief in ihrem Bett und schien von dem Streit nichts zu bemerken. Aber ich, das stille Kind, war von dem Wortgefecht erwacht. Ich erkannte die dunklen Kräfte ihrer Herzen, vor denen ich mich fürchtete.
Welch entsetzliche Offenbarung! Wie konnte ich hier nur leben? Ich, die ich aus Limmritz Wärme und Fröhlichkeit gewohnt war! Ich sehnte mich nach meiner geliebten Heimat. Aber es gab keine Umkehr mehr, keine Rückkehr zu Geborgenheit, Wärme und Liebe.
Vater bemühte sich um mein Wohlbefinden. Er wollte, daß ich mich schnell einlebte. Deshalb schenkte er mir einen Puppenwagen. Meine Eltern lebten inzwischen in guten Verhältnissen. Schließlich gehörte Vater als Handwerksmeister zum Mittelstand. Ihre wirtschaftliche Lage hatte sich stabilisiert. Meine Mutter war trotzdem geizig. Wenn ich ein Schulheft brauchte, mußte ich mehrmals fragen, ehe sie mir die zwanzig Pfennig gab. Sie trug das Geld lieber zur Sparkasse.
In Küstrin besuchte ich zusammen mit meiner Schwester von 1932 bis 1934 die Volksschule. Gerda war hier mit sechs Jahren eingeschult worden. Als Zehnjährige wechselte ich auf die Mittelschule. Sie war ein Ort der Freude und des Friedens. Dort konnte ich alles vergessen, was mein Herz betrübte.
Ich war ein ängstliches Mädchen. Auf meinen Schulzeugnissen steht ››freundlich, aber sehr still‹‹. Ich hatte das Glück, daß mich meine Englischlehrerin förderte und mich persönlich ansprach. Frau Gülke trug viel dazu bei, daß ich etwas aus mir herausging. Diese Lehrerin wurde mir eine liebe Tante, meine Nenn-Tante. Später duzten wir uns sogar.
Zum Glück konnte ich mit der Kleinbahn bald allein die 23 Kilometer von Küstrin in die Heimat reisen. In Limmritz nutzte ich jede Stunde. Sonntags fuhr ich erst mit der letzten Bahn zurück. Während der Schulzeit fuhr ich fast jedes Wochenende nach Limmritz. Auch sonst nutzte ich jede Gelegenheit, die sich dazu bot. Ich wollte beides: in Küstrin zur Schule gehen und die Harmonie des Elternhauses in Limmritz genießen. Elternhaus - dieses Wort benutze ich, obwohl Franz und Anna in diesem Alter noch Onkel und Tante für mich waren.
An jedem Tag in Küstrin sehnte ich die Ferien bei meinen geliebten Menschen herbei. Helles Leuchten waren die Sonntage in Limmritz. Mit Sonne und Kraft beschenkt kehrte ich nach Küstrin zurück. Dort gab es nur einen Lichtschimmer: die Mittelschule für Mädchen, die ich bis 1940 besuchte. Dort erwarb ich die mittlere Reife.
Vor den großen Ferien überfiel mich regelmäßig seelischer Kummer. Ich begann, am Essen zu mäkeln, und große Lustlosigkeit erfaßte mich, weil ich nicht länger in Küstrin bleiben wollte. Ich dachte nur an eines: ›Du mußt hier raus!
Die Atmosphäre im Elternhaus erträgst du nicht!‹
Vieles läßt sich nicht in Worte fassen.
Ich habe mir stets einen Reif um die Seele gelegt, tief geatmet und gedacht, ich kann über das, was in Küstrin geschah, nicht sprechen. Dieses Schweigen bedrückte mich oft - zum einen, weil ich nicht über meinen Schatten springen konnte, zum anderen, weil ich so viel Unverarbeitetes mit mir herumschleppte.
In Limmritz hingegen war ich glücklich, aber auch dort gelang es mir nie, ganz aus mir herauszukommen. Nur beim Schreiben konnte ich mich öffnen - und das tat ich gern.

Hedwig und Anna waren Menschen, wie man sie sich gegensätzlicher nicht vorstellen kann. Anna, die jüngere Schwester, war eine fröhliche Frau. An meinem Schrank hängt noch der Text des Liedes, das sie morgens gern nach dem Aufstehen sang: Oh du klarer blauer Himmel, wie schön bist du heut!
In ihrer Ehe war Anna die etwas Dominantere und Franz der Gütige. Sie ergänzten sich fabelhaft. Mit Onkel Franz verstand ich mich besonders gut. Tante Anna war ein wenig streng. Sie wollte mich zu einer guten Hausfrau erziehen. Noch wichtiger war ihr wohl, daß wir alle miteinander glücklich waren.
Meiner leiblichen Mutter fehlte jegliche Fröhlichkeit. Sie verbrachte ihre Zeit überwiegend zu Hause. Trotzdem widerstrebt es mir zu sagen, sie sei eine Hausfrau gewesen. Im eigentlichen Sinne war sie es nicht. Sie führte den Haushalt eher widerwillig, kaum mit System.
Meine Mutter war Zeit ihres Lebens depressiv und litt oft unter Migräne. Sie war ein schwieriger Mensch. Im nachhinein glaube ich, daß sie häufig darüber nachdachte, sich das Leben zu nehmen.
Natürlich hungerten wir nicht. Sie versorgte uns, und meine Schwester und ich wurden nicht geschlagen. Aufmerksamkeit und Liebe schenkte sie uns allerdings auch nicht.
Wenn ich aus der Schule kam, hatte meine Mutter ein Buch in der Hand. Ich weiß nicht mehr, welche Schriftsteller sie bevorzugte. Vermutlich mochte sie Unterhaltungsliteratur. Sie las und las und dachte gar nicht daran, Mittagessen zu kochen. Warme Gerichte bekamen wir selten. Mein Vater schickte uns Tag für Tag Kuchen oder Brötchen aus der Bäckerei. Lebensmittel gab es also im Haus, aber niemanden, der sich für uns an den Herd stellte.
Mutter war nachlässig. Ihr Motto war wohl: ››Kommst du heut nicht, kommst du morgen!‹‹ Außerdem war sie ein wenig geizig. Ich erinnere mich, daß ich im Winter oft nur eine Kerze anzünden durfte, wenn ich meine Schularbeiten erledigte. Bei diesem schlechten Licht zeichnete ich meine geometrischen Figuren, lernte Vokabeln und Gedichte oder schrieb Aufsätze. Meine Mutter fand es wohl ausreichend, daß im anderen Zimmer oder in der Küche eine Glühbirne brannte. Aber da, wo sie arbeitete, konnte ich mich kaum auf meine Schularbeiten konzentrieren.
Meine Mutter hantierte meist in der Küche oder kümmerte sich um unsere schmutzige Kleidung. Sie wusch häufig. Diesen Tick habe ich von ihr übernommen. Wir besaßen noch keine Waschmaschine. Hosen, Röcke und Laken mußten in der Waschküche in einem großen Kessel gekocht werden. Sie befand sich ganz oben unterm Dach. Und wir wohnten parterre ...
Meine Mutter versorgte uns Kinder, aber sie tat es gewiß nicht gern. Sie hatte eine düstere Ausstrahlung. Als ich älter wurde, befürchtete ich, ich könnte die Anlagen meiner Mutter geerbt haben. Ich bin ein wenig introvertiert. Unter dieser Vorstellung habe ich regelrecht gelitten.
Deshalb war es für mich wichtig, daß ich Menschen fand, die mir Rückhalt gaben und versuchten, meine Fähigkeiten und charakterlichen Stärken zu fördern. Ich weiß, daß ich mehr zu Moll als zu Dur neige. Das habe ich schon zeitig erkannt und mich bemüht, daß diese Seite in meinem Leben nicht Überhand nimmt. Auf der einen Seite gab es Dunkelheit und Betrübnis, auf der anderen Sonne und Freiheit.
Ich fühlte mich nie von meinen Eltern eingeengt oder ungerecht behandelt. Wenn es hieß: ››Bis halb zehn bist du zu Hause!‹‹, machte mir das nie etwas aus. Ich bin diszipliniert und kann mich an solche Vorschriften halten. Was mich störte, war etwas anderes: In Limmritz gab es nicht nur ein größeres, freies Feld, es gab auch mehr Sonne!
Die Schwierigkeiten dieses Lebens in Küstrin ergaben sich aus dem konfliktreichen Verhältnis meiner leiblichen Eltern. Diese beiden Menschen liebten sich nicht. Mein Vater kam oft erst spät nach Hause. Er und meine Mutter hatten fürchterlich Krach. Ich weiß nicht, ob Vater je andere Frauen hatte.
Wenn Kinder hören, wie sich ihre Eltern streiten und beschimpfen, ist das grauenhaft. Meine Schwester wuchs damit auf. Sie kannte nichts anderes, aber ich hatte in Limmritz Harmonie erlebt.
Tante Anna und Onkel Franz lebten in guten Verhältnissen, ebenso wie meine Eltern. Von Großvater hatte Anna eine anständige Aussteuer mitbekommen. Es war nicht üblich, daß Frauen einen Beruf erlernten.
Franz Faber arbeitete nach der Inflation als Generalvertreter verschiedener Firmen in unserem Kreis Sternberg östlich der Oder. Er verkaufte Lacke, Farben und Tapeten. Er malerte nicht mehr.
Schließlich kaufte er das Grundstück seiner Schwiegermutter, also meiner Großmutter. Nun besaß er endlich eigenen Grund und Boden. Annas Vermögen war während der Inflation verlorengegangen. So kam es, daß Franz das gesamte Geld besaß. Er ließ das Grundstück auf den Namen seiner Frau eintragen, so daß Anna Faber die Besitzerin war.
Anna und Franz Faber wollten gern eigene Kinder, aber sie konnten keine bekommen. Um so glücklicher waren sie, daß ich im Hause war. Sie schlossen mich in ihr Herz, bemühten sich liebevoll um mich. Später adoptierten sie mich und wurden meine richtigen Eltern.
In Limmritz wurden mir meine Minderwertigkeitskomplexe genommen. Wenn ich an mir zweifelte, sagte Anna einfach: ››Du kannst das!‹‹ Bei ihr erlernte ich zeitig hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Ich gewöhnte mich daran, Verantwortung zu übernehmen. Bei meiner späteren Arbeit half mir das sehr.
Ich las leidenschaftlich gern. Das lag wohl bei uns in der Familie. Sowohl meine leibliche Mutter als auch meine Mutter Anna waren bildungshungrig, obwohl sie nur eine Dorfschule besucht hatten.
Ständig durchstöberte ich die nette, kleine Bibliothek von Franz. Besonders interessierte ich mich für Geschichte. Schon mit zehn Jahren las ich ein Buch über die Belagerung Magdeburgs. Ich lauschte gern den Schilderungen von Franz, der spannend über historische Ereignisse erzählen konnte.
Wegen meiner Leselust befand sich Anna im Zwiespalt. Einerseits begrüßte sie meinen Bildungshunger, andererseits erschien ihr meine Begeisterung ungeheuerlich. ››Aber nur für eine Stunde!‹‹ mahnte sie, wenn ich nach einem Buch griff. Anna wollte wohl nicht, daß ich mich so in die Literatur vertiefte wie meine leibliche Mutter. Sie verband damit unangenehme Erinnerungen.
Hedwig las ständig, wo sie ging und stand. Sie widmete sich auch ihrer Lektüre, wenn die Familie sonntags mit der Kutsche ausfahren wollte.
››Mach schon, der Wagen ist angespannt!‹‹ rief Großvater.
››Ja, ja, ich komme gleich‹‹, antwortete Hedwig. Statt in den Wagen einzusteigen, blieb sie mit ihrem Buch im Zimmer sitzen. Drei Stunden später setzte sie sich endlich in Bewegung. Der Wagen war weg, das Fahrrad war weg, und Hedwig mußte hinterdrein trotten.

Anna war eine tadellose Hausfrau. Ein Verhalten wie das ihrer Schwester wäre ihr natürlich ein Dorn im Auge gewesen. Ich, Hedwigs Tochter, sollte nicht so werden wie meine Mutter. Anna wollte mich gut erziehen.
Ich las natürlich trotzdem. An den langen Sommerabenden war das kein Problem. Im Winter nahm ich eine Taschenlampe mit ins Bett, denn der Lichtschalter für mein Zimmer befand sich unten im Hausflur. Es war mir nicht erlaubt, mich nach dem Zubettgehen noch mit einem Buch zu beschäftigen. Manchmal überschritt ich das eine oder andere Verbot.

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