Mein Buch bei Rohnstock Biografien
Mein Blog bei Rohnstock Biografien
Schon als ich ein kleines Mädchen war, bestimmte der christliche Glaube mein Leben. So ist es bis heute.
Großmutter hatte früh damit begonnen, mir aus der Bibel vorzulesen und zu erzählen. Ich saß ihr zu Füßen und lauschte aufmerksam. Das ist eine der schönsten Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit.
Um in Küstrin so wenig wie möglich zu Hause sein zu müssen, übernahm ich Verpflichtungen in unserer Kirchengemeinde. Diese Aufgaben bereicherten mich. Im Gemeindehaus fühlte ich mich zu Hause, die Schule bot mir Zuflucht. Mein Herz wollte fort, fort aus meinem Elternhaus, fort von diesem Ort des Unfriedens. Dieser Wunsch wuchs in mir und wurde immer mächtiger.
Gott gab mir Pastor Walter Rosenfeld, den treuen Seelsorger der Friedensgemeinde, als väterlichen Freund und schenkte mir durch liebe, verständnisvolle Menschen Freude am Leben. Pastor Rosenfeld war mit einer Frau verheiratet, die ich sehr mochte. Da das Ehepaar kinderlos geblieben war, kümmerte er sich um so mehr um mich und um viele andere Jugendliche. Das war eine große Bereicherung für mich.
Meine Nenn-Tante, Frau Gülke, hat viel dazu beigetragen, daß mein Selbstvertrauen allmählich wuchs. Noch mehr habe ich dem Pfarrer und seiner Frau zu verdanken.
Ich wußte zwar, daß ich zu den guten Schülern zählte. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, daß ich ein wertvoller Mensch sei. Wie hätte ich für andere Leute wertvoll sein können? Schließlich war ich das ungeliebte Kind meiner Eltern. Selbst meine Zurückhaltung hielt ich manchmal für etwas Schlechtes. Es ist nicht unbedingt gut, wenn ein Mensch ständig grübelt und grübelt.
Ich zerbrach mir den Kopf über Gott und die Welt. Als ich mit vierzehn Jahren konfirmiert werden sollte, glaubte ich, dafür noch nicht reif zu sein. Meine Familie billigte meine Entscheidung. Ich wartete noch zwei Jahre.
Den Konfirmandenunterricht besuchte ich schließlich mit meiner jüngeren Schwester. Nun lernte ich den Herrn des Lebens noch besser kennen.
Am 10. März 1940, im Alter von sechzehn Jahren, wurde ich zusammen mit Gerda konfirmiert. Da es das erste Kriegsjahr war, feierten wir bescheiden in Küstrin, in der Friedenskirche mit unserem verehrten Pastor Rosenfeld. Mein Konfirmationsspruch stammt aus dem Brief des Paulus an die Philipper. Er lautete: Der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollenden bis auf den Tag Jesu Christi.
Eine Woche später gab es in Limmritz ein kleines Familienfest. Für mich war dieses Fest ein Meilenstein. Mein Ziel bestand darin, endlich erwachsen und selbständig zu sein, um aus Küstrin fortzukommen.
Ich begann, intensiv über meinen Berufswunsch nachzudenken. Bereits als Zwölfjährige hegte ich den Wunsch, eine Ausbildung in der Krankenpflege zu absolvieren. Für mich gab es nichts Schöneres, als anderen Menschen zu helfen und ihnen Freude zu schenken.
Ich erinnere mich an einen weiteren Konflikt, der meine Jugend und meinen Glauben prägte. In der Nazizeit gab es in der evangelischen Kirche Auseinandersetzungen darüber, wer die Oberhand gewinnen sollte: jene, die sich Deutsche Christen nannten und die sich dem Nationalsozialismus zuwandten, oder jene, die die Botschaft Christi in den Vordergrund stellten. Die Deutschen Christen hatten die Gleichschaltung der evangelischen Kirche mit dem Nationalsozialismus zum Ziel. Sie lehnten das Alte Testament ab. Zu Konflikten führte auch die Einführung der sogenannten Arier-Paragraphen, die auf Hitlers Rassentheorie beruhten. Die Deutschen Christen erwarteten, daß die Konfirmanden in der Uniform der Hitlerjugend zu ihrer Konfirmation erschienen. Es kam vor, daß an Kirchen Hakenkreuzflaggen gehißt wurden.
Die Bekennende Kirche, zu der Männer wie Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller gehörten, leistete Widerstand gegen diese Entwicklung. Sie warb für Toleranz gegenüber den Juden.
Küstrin war eine Hochburg der Bekennenden Kirche. Der Druck auf Pfarrer und Laien war stark. Viele wurden eingesperrt. Meine Familie stand - wie die meisten Küstriner - auf der Seite der Bekennenden Kirche.
Im Jahr 1938 wagte es Pastor Walter Rosenfeld, im Gottesdienst für Martin Niemöller und die anderen Männer und Frauen, die verfolgt wurden, zu beten. Dafür sperrten ihn die Nazis für mehrere Monate ins Gefängnis.
Einige Gemeindemitglieder zogen vor das Gefängnis und sangen. Wir jungen Mädchen schlossen uns an. Wir wollten unserem Pfarrer zeigen, daß wir ihn nicht vergessen hatten und daß er mitten unter uns war.
Daraufhin wurde Pastor Rosenfeld in eine andere Zelle verlegt. Er durfte nicht mehr ans Fenster. Nach seiner Entlassung wurde er als einfacher Gefreiter zur Wehrmacht eingezogen.
Auch als ich nicht mehr in Küstrin lebte, hatte Pastor Rosenfeld großen Einfluß auf mich. Er schickte mir wunderbare Briefe. Natürlich waren es keine Liebesbriefe. Da er für die Konfirmation verantwortlich war, schrieb er auch anderen Jugendlichen.
Am 29. August 1944 wurde Pastor Rosenfeld in Rumänien verwundet und starb dort.
In Deutschland mußten alle Mädchen im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren Mitglieder des Bundes Deutscher Mädel (BDM) werden, der nationalsozialistischen Jugendorganisation. Schon mit zehn Jahren waren sie Deutsche Jungmädel und gehörten der Hitlerjugend an. Das war während der NS-Zeit Pflicht.
In Küstrin waren schon fast alle meine Schulkameradinnen Jungmädel oder BDM-Mitglieder. Nur zwei andere Schülerinnen und ich waren noch übrig. Die Schulleiterin ärgerte sich über uns. Um endlich die Jugendfahne für unsere Schule zu bekommen, wollte sie nach oben melden, daß alle Kinder ab zehn Jahren in der Hitlerjugend waren. Ich aber war bereits dreizehn und immer noch nicht drin. Wir drei waren eine ››Schande‹‹ für die Schule.
››Wann wirst du endlich Jungmädel, Lotte?‹‹ mahnte mich die Schulleiterin wieder und wieder. Sie war zwar Christin, trug aber das Abzeichen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP).
Ich zog meine Nenn-Tante ins Vertrauen, die Englischlehrerin Frau Gülke. ››Geh in diese Hitlerjugend‹‹, riet sie mir. ››In der evangelischen Jugendgruppe kannst du trotzdem bleiben!‹‹
Zähneknirschend folgte ich ihrem Rat. Im November 1937 wurde ich Deutsches Jungmädel. Eins der Mädchen, die ebenfalls so lange standhaft geblieben waren, mußte dem Drängen der Schulleiterin schließlich auch nachgeben. Das andere verließ die Schule aus persönlichen Gründen.
Die BDM-Mitglieder trafen sich jeden Dienstag um 19 Uhr zum Heimabend. Ich ging zweimal hin.
››Ich kann nicht mehr kommen‹‹, sagte ich beim zweiten Mal. ››Um diese Zeit findet der Kindergottesdienst statt, beim dem ich helfen muß.‹‹
So leicht wurde ich die unangenehme Pflicht jedoch nicht los: ››Gut‹‹, hieß es, ››dann teilen wir dich für einen anderen Tag ein.‹‹ Statt am Dienstag sollte ich nun am Mittwoch beim Heimabend des BDM erscheinen.
Zwei-, dreimal tat ich, wie mir geheißen. Dann protestierte ich erneut: ››Mittwochs trifft sich aber der Chor. Am Donnerstag ist Bibelstunde, und außerdem findet das Bittgebet statt.‹‹
››An welchem Tag hast du denn Zeit?‹‹ wurde ich gefragt.
Ich hatte gar keine. Nur an den Sonnabenden besuchte ich notgedrungen die Veranstaltungen des BDM. Der Sonnabend war der Staatsjugendtag. Alle Mitglieder der Hitlerjugend hatten zu erscheinen. Für uns wurden Geländespiele und Wanderungen organisiert. Außerdem mußten wir an nationalsozialistischen Schulungen teilnehmen.
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