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Meine Vorfahren mütterlicherseits stammten aus dem Hannoverschen. In den Jahren 1774/76 waren sie ausgezogen, um sich in Limmritz anzusiedeln.
Früher hatte es in der Umgebung des seit dem 15. Jahrhundert bestehenden Dorfes nur ein riesiges Sumpfgebiet gegeben. Nach dem Siebenjährigen Krieg war das Warthebruch jedoch unter der Leitung von Franz Balthasar Schönberg von Brenkenhoff trockengelegt und urbar gemacht worden. Friedrich II. hatte den Auftrag dafür erteilt und zusätzlich verfügt, daß alle Siedler, die sich in dem Gebiet niederlassen, Fachwerkhäuser zu bauen hätten.
Auch unsere Familie lebte bis 1895 in solch einem Fachwerkhaus. Meinem Großvater mißfiel diese Eintönigkeit irgendwann. ››Nun muß was Neues her!‹‹ soll er gesagt haben. ››Fachwerk, das über hundert Jahre alt ist, kann man ausbessern. Aber ist es nicht besser, Stein auf Stein zu setzen?‹‹
Großvater baute, wie es sich für einen guten Bauern ziemte: erst Ställe fürs Vieh, dann ein Wohnhaus für die Familie. 1893/94 waren die Behausungen für die Tiere fertig. Es gab eine Scheune, Schweinestall, Schafstall, Kuhstall, Pferdestall - alles, was zu einer Bauernwirtschaft gehörte. 1895 stand endlich auch das neue Wohnhaus.
Meine Großmutter Antonie, eine geborene Thieme, stammte aus dem Ort Freiberg im Warthebruch. Karl Schmidt, mein Großvater, war 1859 in Limmritz geboren worden und zwei Jahre älter als sie. Karl und Antonie hatten vier Kinder: Bertha (geboren am 7. August 1887), meine Mutter Hedwig (5. September 1889), Karl (20. Februar 1893) und meine geliebte Tante Anna (1. April 1895). Die Geschwister Karl und Anna verstanden sich besonders gut.
Zwei weitere Säuglinge starben wenige Monate nach der Geburt.
Den Kindern von Karl und Antonie sollte eine besondere Lebensgeschichte beschieden sein. Zwei endeten tragisch. Der älteste Sohn Karl, Hoferbe und Stolz meines Großvaters, fiel im Februar 1915 in den Karpaten. Mein Großvater war darüber so erschüttert, daß er das gesamte Land, das sich seit Generationen in unserem Besitz befunden hatte, 1916/17 an einen anderen Bauern verkaufte. Das Haus in der Bruchstraße 18 blieb weiter in den Händen der Familie. Mein Großvater lebte von den Kapitalerträgen des Verkaufs, bis das Geld während der Inflation an Wert verlor. Er war ein Rentier - so nannte man das damals.
Der Lebensweg meiner Tante Bertha begann zunächst vielversprechend. Sie heiratete 1913 als erste der drei Töchter. Mit ihrem Mann Franz Wolf zog sie nach Woxfelde, wo sie zwei Kinder bekamen. Ihr Glück fand ein jähes Ende: Franz starb 1936. Berthas Sohn, mein Vetter Karl, wurde 1939 Soldat. Mit einer Verwundung kam er kurz vor Kriegsende in ein Lazarett in der Stadt Soldin, östlich der Oder. Als die Russen dort einmarschierten, wurde Karl zusammen mit zwanzig weiteren Kameraden erschossen.
Meine Cousine Martha, geboren 1914, verlor ihren Verlobten auf dem Schlachtfeld. Martha betreute als Hausdame eine alte Pastorenwitwe in Stettin. Als dort die ersten Bomben fielen, wollte der Sohn der Witwe seine Mutter und Martha ins Rheinland bringen, wo Verwandte lebten. Er holte sie zunächst nach Posen, das heute Poznan heißt. Auf dem Weg nach Westen machte er in Limmritz Station bei Anna Faber, der Tante von Martha.
Bei diesem Aufenthalt entschloß sich Martha, bei ihrer Mutter Bertha in Woxfelde, einem Ort vier Kilometer von Limmritz, zu bleiben. Die beiden Frauen lebten in dem Haus, in dem sich auch das Kolonialwarengeschäft meines Urgroßvaters Gustav Thieme befand. Bertha war die Erbin dieses Geschäfts.
Als der Ort von den Russen heimgesucht wurde, fanden Martha und Bertha ein schreckliches Ende. Zwölf Frauen aus Woxfelde - darunter meine Tante und meine Cousine - wurden von den Soldaten so grausam geschändet, daß sie danach nicht mehr leben wollten. Sie erhängten sich. Ein Nachbar und ein alter Mann, dessen Namen ich nicht weiß, wickelten die toten Frauen nacheinander in Teppiche, die sie in den Häusern gefunden hatten. Särge gab es nicht. Auf dem nahen Friedhof fanden sie ihre letzte Ruhestätte. Später verlor der alte Mann kein Wort darüber, wie die Leichen ausgesehen hatten. Die Frauen müssen so gräßlich zugerichtet worden sein, daß er nicht darüber reden konnte.
Auf diese Weise wurde die gesamte Familie meiner Cousine Martha ausgelöscht.
Hedwig, meine leibliche Mutter, besaß eine besondere Stellung in der Familie. Zu ihren Geschwistern hatte sie schon als Kind ein unterkühltes Verhältnis. Mit ihrer Mutter verstand sie sich dagegen ausgezeichnet. Die Beziehung zu ihrem Vater war eher distanziert. Hedwig litt wohl darunter, seine hohen Ansprüche, die er als arbeitsamer Mann an seine Kinder stellte, nicht erfüllen zu können.
Zwar blieb Hedwig von dramatischen Schicksalsschlägen verschont, doch ihr Lebensweg war mit einem Makel behaftet. Meine Mutter war bereits 34 Jahre alt, als endlich ein Mann um ihre Hand anhielt. Zu dieser Zeit, 1923, lebte sie noch im Haus ihrer Eltern. Einen Beruf hatte sie nicht erlernen dürfen. Mädchen wurden zum Heiraten erzogen. Als unverheiratete Frau so lange bei Vater und Mutter zu bleiben, galt als unehrenhaft. Das kam einer Schande gleich.
Endlich entschied sich mein Vater für Hedwig. Otto Hänsch stammte aus St. Johannes, einem Dorf in der Nähe von Limmritz. Er wurde am 8. Juli 1888 geboren. Da mein Großvater väterlicherseits früh starb, wuchs Otto mit einer Schwester bei der Mutter auf.
Als Otto schließlich Hedwig um ihre Hand bat, war das kein Liebesbeweis. Er hätte lieber Anna geheiratet, die jüngere Schwester. Sie hatte sein Werben nicht erhört. Otto brauchte aber eine standesgemäße Frau. Also fügte er sich in sein Schicksal und führte Hedwig zum Traualtar. Die beiden kannten sich bereits seit langem.
Seinerzeit besaß jeder Handwerksmeister Land. Da der Besitz der Familie Hänsch an den meiner Großeltern Schmidt grenzte, standen sie in engem Kontakt. Sicher drängte Großvater Karl den Otto zu dieser Heirat, denn er wollte seine Tochter endlich unter der Haube wissen. Der innige Wunsch meiner Mutter war es jedenfalls nicht, Otto zu heiraten. Sie gab meinem Vater die Hand, ohne ihm auch ihr Herz zu schenken. Die Ehe war von Anfang an unglücklich, und sie sollte es bleiben, bis mein Vater starb.
Nur meiner Tante Anna war ein glückliches Leben beschieden. Sie war die fröhlichste und temperamentvollste der drei Schwestern. Schon früh am Morgen sang sie. Sie hatte auch schauspielerisches Talent.
Daß sie so glücklich war, lag vor allem daran, daß sie eine gute Ehe führte, in der Mann und Frau einander achteten. Anna heiratete ihren älteren Cousin. Franz Faber hatte schon lange ein Auge auf sie geworfen. Er stammte aus Sonnenburg, wo er am 17. November 1885 zur Welt gekommen war.
Sein Vater (1852 bis 1898) war Schneidermeister, die Mutter Berta (1852 bis 1901) die Schwester meiner Großmutter Antonie. Berta und Antonie waren beide geborene Thieme.
Franz Faber hatte ein besonderes Steckenpferd. Nach der Mode der Zeit gestaltete er Stilleben, die er Freunden und Verwandten schenkte. Das Malen machte er auch zu seinem Beruf. Allerdings war er kein Kunstmaler, sondern Malermeister.
Nach seiner Lehrzeit lebte er drei Jahre in dem Schweizer Ort Thun und in Berlin. 1910, nachdem er endlich seinen Meisterbrief erhalten hatte, ließ er sich in Limmritz nieder.
Franz mietete das Ausgedinge im Haus meiner Großmutter Antonie. So nannte man die kleine Wohnung, die sich in jedem Bauernhaus befand. Sie hatte einen eigenen Eingang und eine Küche - unabhängig von der großen Wohnung der Bauersleute. Wenn der Bauer den Hof an seinen Erben abgab, zog er mit seiner Frau in das Ausgedinge. Der Sohn mußte fortan für die Eltern sorgen. Sie erhielten Naturalien und das Wohnrecht bis ans Ende ihrer Tage. Auf diese Weise war geregelt, daß mehrere Generationen zusammen unter einem Dach leben konnten: die junge Familie mit ihren heranwachsenden Söhnen und Töchtern und das alte Bauernpaar, das den Kindern meist hilfreich zur Seite stand. Wenn die greise Bäuerin nicht mehr den Haushalt führen konnte oder wenn sie verstarb, kochte die junge Frau für die Alten.
Franz Faber lebte nun im Ausgedinge. Seine Beziehung zu Anna wurde immer intensiver. Als 1914 der Krieg kam, wurde Franz eingezogen. Anna wartete geduldig auf ihn.
Die Werbungen anderer Männer schlug sie aus. ››Ich bin dem Franz versprochen, und das will ich auch einlösen!‹‹ soll sie jedem gesagt haben. Auch Otto Hänsch, meinem Vater.
1917, kurz vor Kriegsende, fragte der Verwalter der Limmritzer Molkerei meinen Großvater: ››Gibst du mir mal deine Anna-Tochter? Ich suche jemanden zum Rechnen und Schreiben!‹‹
››Meine Tochter braucht nicht zu arbeiten‹‹, erwiderte mein Großvater. ››Ich hab genug Geld!‹‹
Anna und der Verwalter setzten sich durch - jeder auf seine Weise. Meine Tante wurde für ein knappes Jahr berufstätig.
1918 kehrte Franz Faber aus dem Krieg zurück. Er wollte endlich seine Beziehung zu Anna legalisieren. Bei Großvater Karl hielt er um ihre Hand an. Mein Großvater zögerte lange, weil Franz und Anna Cousin und Cousine waren. Auch trug er schwer am Verlust seines Sohnes. 1920 willigte Großvater endlich ein. Allerdings stellte er eine Bedingung: ››Anna darf bei der Hochzeit kein weißes Kleid tragen! Schließlich sind wir in Trauer.‹‹
Anna bekam trotzdem ihren Willen. Sie trug ein weißes Brautkleid, wie es sich für eine Liebesheirat gehört.
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