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Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern in der historischen Altstadt von Küstrin an der Oder. Sie hatten Am Markt 196 eine Wohnung mit mehreren Zimmern gemietet.
Obwohl sie nicht weit entfernt wohnten, hatte Hedwig kaum Kontakt zu ihrer Schwiegermutter. Meine Großmutter väterlicherseits hielt sich vor allem bei ihrer Tochter Ida auf, die mit ihrem Mann ein Bauernhaus im Warthebruch besaß. Idas Ehe blieb kinderlos. Diese Angehörigen meines Vaters lernte ich nicht näher kennen. Ich sah sie in meinem Leben nur ein einziges Mal.
Otto war ein guter Vater, ein liebenswürdiger, sanftmütiger Mensch. Er arbeitete als Bäcker- und Konditormeister. Da meine Mutter sich nicht damit arrangieren konnte, gab er sein Geschäft auf. Er fand eine Anstellung in einer großen Bäckerei. Dort wurde ein Bäcker- und Konditormeister gesucht, der sowohl für die Bevölkerung als auch fürs Militär backte. In dieser Bäckerei war mein Vater bis zum Kriegsende tätig.
Meine Geburt und meine Anwesenheit überforderten meine Mutter, denn sie liebte ihren Mann nicht. Sie konnte und wollte sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden, nur Ehefrau und Mutter zu sein. Deshalb war ihre Ehe von Anfang an von Zerwürfnissen geprägt.
Als ich zur Welt kam, war meine Mutter 34 Jahre alt, nach damaligem Verständnis viel zu alt für eine Erstgeburt. Ich war ein spilleriges Kind, und sie konnte mich nicht stillen. Erst nach einigen Jahren, als ich schon etwas älter war, fügte sich meine Mutter besser in ihre Rolle hinein. Sie hatte sich endlich mit ihrer Ehe abgefunden. Meine jüngere Schwester Gerda wurde etwas liebevoller erzogen als ich.
Im Frühling 1924 wurde ich getauft. Tante Anna war meine Patin. Ob sie wohl ahnte, welche Aufgabe ihr noch bevorstand?
Als meine Eltern mich aus dem Haus gaben, war ich gerade sieben Monate alt. Sie glaubten, mich nicht weiter bei sich behalten zu können, da sie sich in einer schwierigen finanziellen Situation befanden. Überall in Deutschland herrschte in diesen Jahren Verzweiflung und Elend. Viele Menschen litten Not. Die Folgen der Inflation und der Reparationskosten, die nach dem Krieg zu zahlen waren, machten sich überall bemerkbar. Im Juni 1923 kostete ein Pfund Margarine zwischen 7600 und 9600 Mark, ein Pfund Kartoffeln zwischen 112 und 130 Mark, ein Pfund Zucker 1400 bis 1500 Mark und ein Ei 800 bis 810 Mark.
Im Sommer 1924 kam ich also zu meinen Großeltern mütterlicherseits nach Limmritz. Ich bin überzeugt davon, daß meine Seele von der düsteren Stimmung in Küstrin bereits geprägt war. Großmutter Antonie und Großvater Karl pflegten mich rührend.
Obwohl Karl den Bauernhof nach dem Tod seines Sohnes verkauft hatte, wohnten die Großeltern auf dem Grundstück und hielten eine Kuh im Stall. Auf dem Lande war das so üblich. Man besaß ein paar Hühner und fütterte ein Schwein oder eine Kuh.
Meine Eltern kamen gelegentlich nach Limmritz zu Besuch. Trotzdem konnte ich zu ihnen keine Eltern-Kind-Beziehung aufbauen. Ihnen erging es wohl ähnlich. Da ich mich den Großeltern und Anna und Franz Faber zugehörig fühlte, störte mich die Kälte und Zwietracht zwischen meinen Eltern kaum.
Auf dem Hof in Limmritz wohnten wir alle zusammen: Großvater Karl, Großmutter Antonie, Anna, Franz und ich. An Großvater erinnere ich mich nicht, ich war noch zu klein, als er starb.
Mein Urgroßvater Gustav Thieme besaß einen Bauernhof in Freiberg/Warthebruch und ein Kolonialwarengeschäft in Woxfelde. Mit siebzehn Jahren heiratete Gustav seine Karoline. Mit ihr hatte er dreizehn Kinder. Nur sechs überlebten ihre Kindheit. An ihre Geburts- und Sterbedaten kann ich mich nicht erinnern. Sie waren in unsere Familienbibel eingetragen, die in den letzten Kriegstagen verlorenging. Das war ein großer Verlust für uns, denn wir liebten diese Bibel alle sehr.
Urgroßvater Gustav war ein Mann mit vielfältigen Talenten. Außer dem Geschäft und dem Bauernhof widmete er sich noch seiner Geige. Darauf spielte er besonders gern. Er besaß eine musische Ader und dichtete gelegentlich.
Großmutter Antonie, seine Tochter, war ihm in vielem ähnlich. Sie dichtete zwar nicht selbst, aber sie schrieb viele Gedichte auf. Von ihr habe ich wohl die Freude an Gedichten und am Schreiben geerbt. Antonie war eine wunderbare Frau.
Meine Großmutter war körperlich robust. Sie brachte sechs Kinder zur Welt, zwei davon starben. Obwohl sie äußerlich so stark war, besaß sie ein zartes Gemüt.
Als ich sehr klein war, blieb ich über Nacht in Antonies Schlafzimmer. Dort stand mein Bett. Als einer der Giebel ausgebaut wurde, bekam ich mein eigenes Zimmer.
Großmutter Antonie nannte ich Mutter, weil sie sich tatsächlich wie eine Mutter um mich kümmerte. Fabers waren für mich Tante Anna und Onkel ››Fanz‹‹. Als kleines Mädchen konnte ich das ››r‹‹ nicht aussprechen. Den guten Onkel ››Fanz‹‹ liebte ich so sehr, daß ich ihn sogar heiraten wollte. Da war ich vier oder fünf Jahre alt.
Als im Herbst 1928 meine Cousine Martha konfirmiert wurde, gab es ein riesiges Familienfest. Fabers fuhren die vier Kilometer bis zu unseren Verwandten mit dem Motorrad. Franz besaß ein solch stolzes Gefährt, weil es für ihn als Generalvertreter für Farben, Lacke und Tapeten unentbehrlich war. Er war in unserem gesamten Kreis Sternberg unterwegs.
Meine Großmutter und mich kutschierten Bekannte mit einem Pferdewagen zum Fest. Auf dem Rückweg waren Fabers natürlich vor uns zu Hause. Sie standen am Fenster und hielten nach uns Ausschau. Der Kutschwagen kam und kam nicht.
Plötzlich klopfte ein aufgeregter Nachbar an die Tür. ››Kommen Sie schnell!‹‹ rief er. ››Hinter der Postum ist ein Unfall passiert. Ihre Mutter liegt im Graben. Die Kleine sitzt noch auf dem Wagen!‹‹
Die Postum ist ein kleiner Fluß. Das Unglück hatte sich ereignet, als uns ein Motorrad zu überholen versuchte. Diese Gefährte erreichten höchstens dreißig Kilometer pro Stunde. Trotzdem scheuten die Pferde und gingen durch. Meine Großmutter war in hohem Bogen in den Chausseegraben geflogen und hatte sich dabei eine Gehirnerschütterung und einen doppelten Knöchelbruch zugezogen. Mir war nichts passiert. Der Kutscher war ebenfalls mit dem Schrecken davongekommen.
Antonie wurde sofort ins Johanniter-Krankenhaus nach Sonnenburg gebracht. Dort lag sie monatelang. Kinder hatten seinerzeit keinen Zutritt zu Krankenhäusern. Da ich erst vier Jahre alt war, durfte ich die Großmutter nicht sehen. Ich war unendlich traurig, daß meine geliebte Großmutter nicht bei mir war. Wenn Fabers Antonie besuchten, blieb ich bei Frau Meier, einer Freundin meiner Großmutter. Jedesmal, wenn ich bei ihr abgeliefert wurde, sträubte ich mich heftig.
Ich besaß eine Puppe mit einem wunderschönen Porzellankopf, die ich Gretchenpuppe nannte. Mit ihr hatten schon meine Tanten gespielt. Ich bin kein jähzorniger Typ. Aber einmal war ich so verzweifelt vor Sehnsucht nach meiner Großmutter-Mutter, daß ich die Puppe auf die Steine schleuderte. Der Porzellankopf zersprang.
Später bekam die Puppe einen Blechkopf als Ersatz. Das störte mich nicht. Nach fünf langen Monaten konnte ich endlich meine Großmutter-Mutter wiedersehen und in die Arme schließen.
Meine Großmutter war eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Ich sehe sie noch vor mir auf einem Stuhl sitzen, ein Schaf-Fell über den Knien: Ich hocke ihr zu Füßen auf einer Bank und höre ihr zu, während sie von früher erzählt. Wundervoll. Ich denke, daß ich als Zeitzeugin verpflichtet bin, das Gehörte weiterzugeben, aufzuschreiben, woher wir kamen, was wir erlebten und was uns geformt hat.
Gern schilderte meine Großmutter ihre Jugend. Nach ihrer Verlobung wurde sie für ein Vierteljahr in den Haushalt der künftigen Schwiegermutter beordert, um kochen zu lernen. Dies konnte sie zwar schon gut, aber nun sollte sie auch die Gerichte erlernen, die ihr späterer Mann gern aß. Erst nachdem Großmutter die Lieblingsspeisen meines Großvaters kannte, durfte sie ihn heiraten. Diese Rezepte waren wichtig.
Die Leute glaubten, daß dieser Brauch die Ehe erleichtern würde. Wenn die Frau auf den Tisch brachte, was der Mann mochte, wurden viele Konflikte von vornherein vermieden. Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Die Ehe sollte schließlich ein Leben lang halten!
Großmutter berichtete, daß sie als junge Frau Seife herstellen mußte. Dazu benutzte man Tierknochen. Zur Seife für die große Wäsche kam außerdem eine steinerne Substanz, damit die Kleidung wirklich rein wurde. Die Wäsche wurde geblaut. Dazu gab man blaues Pulver in ein kleines weißes Säckchen, das etwa fünf mal zehn Zentimeter groß war. Dieses Säckchen wurde ins Waschwasser gelegt, damit der Stoff weiß wurde.
Meine Großmutter lernte auch, Stores so zu waschen, daß die Gardinen keinen bräunlichen Farbton bekamen. Dafür muß man in das letzte Spülwasser ein wenig schwarzen Tee geben.
Ihre Geschichten schrieb Großmutter alle auf. Leider besitze ich diese Bücher nicht mehr.
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