Freitag, 6. April 2007
Folge 5: Wo ist denn Tante Anna?
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

Mein Buch bei Rohnstock Biografien
Mein Blog bei Rohnstock Biografien

Seit ich denken kann, verbrachte ich viel Zeit mit Fabers. Sobald ich dem Blick meiner Großmutter entwischen konnte, stahl ich mich aus der Wohnung und eilte zu ihnen hinüber. Großmutter wußte natürlich, wo ich war.
Ich besaß eine kleine Pelerine und dazu ein Samtmützchen mit blauen Schleifenbändern. Die Pelerine hängte ich mir im Winter über und huschte schnell über den Hof zu Tante und Onkel. Es war unmöglich, zu Anna und Franz zu gelangen, ohne das Haus verlassen zu müssen, da sie die Zwischentür zum kleinen Zimmer hinter der Küche mit ihrem Küchenschrank zugestellt hatten, um Platz zu gewinnen.
Niemals vergesse ich, wie Anna mir zur Schummerstunde Märchen erzählte oder Lieder vortrug. Sie hatte eine schöne, helle Stimme und sang leidenschaftlich gern, auch im Kirchenchor. Anna nähte auch gut. Sie schneiderte meine gesamte Kleidung.
Als Großmutter fünf Monate nach dem schlimmen Unfall endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte sie nur noch am Stock gehen. Sie war auf Hilfe angewiesen und wurde daher von ihrer Tochter Anna versorgt.
Nun, ab 1928, wuchsen wir endgültig zu einer Großfamilie zusammen. Wir hatten zwar zuvor schon unter einem Dach gelebt, aber die Haushalte waren getrennt gewesen. Jetzt wirtschafteten wir zusammen und nahmen alle Mahlzeiten gemeinsam ein. Dadurch entstand eine noch engere Beziehung zu Fabers.
Als ich bereits in Küstrin wohnte, wurde in Limmritz für mich ein eigenes Zimmer eingerichtet, die ››Oberstube‹‹ im Giebel des Hauses. Sie befand sich zwischen zwei Bodenkammern. Ich wohnte dort, wenn ich Großmutter besuchte, die zu dieser Zeit noch hinfälliger wurde.
Mein Zimmer war mit zwei Betten ausgestattet - eines für mich, das andere für meine Tante Mia aus Berlin oder für eine Freundin, die regelmäßig zu uns kam.
In einer der Bodenkammern stand eine große Truhe mit dem, was für meine Aussteuer gesammelt wurde. In der anderen Kammer befanden sich Vorräte. Meine Mutter Anna bewahrte dort einen Zentner Zucker auf, einen Zentner Mehl und vieles andere.

Ich bin ein anpassungsfähiger Mensch. Nur ein einziges Mal handelte ich mir bei meinem Vater Otto Schläge ein. Ich mußte ein paar Wochen in Küstrin bleiben, da meine Fabers Scharlach hatten. Meine Mutter befand, daß mein Haar zu lang sei. ››Es kostet zuviel Zeit und Mühe, dich zu frisieren‹‹, sagte sie. Vater griff nach der Schere.
››Ich will nicht!‹‹ brüllte ich. ››Ich will meine langen Haare behalten!‹‹
Vater gab mir eine schallende Ohrfeige. Die Haare blieben dran.
Anna schlug mich nicht. Sie hatte andere Erziehungsmethoden, die härter waren als Prügel. Wenn ich etwas ausgefressen hatte, sperrte sie mich hinter die Kellertür. Soweit ich mich erinnern kann, kam das nur zweimal vor. Wofür ich bestraft wurde, weiß ich nicht mehr. Von unserem großen Flur führte eine Treppe hinab zum Keller. Davor befand sich auf einer Art Podest die Tür. Auf dem Podest stellten Fabers Besen und andere Gerätschaften ab. Dahinter mußte ich Buße tun.
Es war furchtbar! Anna wartete auf der anderen Seite. Ihr Herz klopfte wohl so laut wie meines. Ihr gefiel die Situation ebensowenig wie mir. Aber sie wollte mir auf keinen Fall einen Klaps geben.
››Bitte entschuldige!‹‹ sagte ich schließlich. ››Ich will es nicht wieder tun!‹‹
Es gab auch eine Rute aus Weidenzweigen. Sie lag auf einem Brett, das unter dem Oberlichtfenster an der Tür angebracht war. Die Rute sah man, wenn man die Wohnung betrat. Selten kam es vor, daß ich nicht brav war. Dann zeigte mir Anna diese Rute.
Als ich erwachsen war, betonten Fabers ständig: ››Lottchen war ein braves Kind!‹‹ Ich mag das Wort brav nicht. Ich glaube, daß ich als Kind eher angepaßt und pflegeleicht war. Ich konnte schon mit drei Jahren das Vaterunser aufsagen und Gedichte vortragen, ehe ich zur Schule kam. Eines meiner Lieblingsgedichte stammt von Hoffmann von Fallersleben. Ich kann es noch heute:

Ich lag und Ich lag und schlief,
da träumte mir ein wunderbarer Traum,
es stand vor mir auf unserem Tisch
ein großer Weihnachtsbaum und goldene Äpfel ...

Meine Mutter Anna war eine temperamentvolle und phantasiebegabte Frau, die bei Familienfesten gern etwas zum besten gab. Ich war dagegen schüchtern. Ich traute mich nie, Gästen etwas vorzuführen. Wenn Bekannte und Verwandte kamen und ich ein Gedicht aufsagen sollte, kroch ich schnell unter den Tisch. Als mich Anna wieder einmal bat, den Gästen etwas vorzutragen, hockte ich mich unter den Tisch und sagte dort das Vaterunser auf.
Aus der Adventszeit ist mir eine Geschichte in Erinnerung geblieben. In unserer Familie wurde sie später oft erzählt. An jenem Abend in der Vorweihnachtszeit, von dem die Rede sein soll, war ich bei der Großmutter. Es war bereits dunkel. Wir warteten gespannt auf den Nikolaus.
Plötzlich hörte ich Schritte. Jemand klopfte an die Tür. Großmutter öffnete. Mit großen Augen erkannte ich, daß es der Nikolaus war. Als er mit seinem Pelzmantel und dem weißen Bart vor mir stand, bekam ich es doch mit der Angst zu tun.
››Warst du artig, mein Kind?‹‹ fragte er. ››Kannst du mir ein Gedicht aufsagen?‹‹
Ich klammerte mich an meine Großmutter und zupfte an ihrem Rock. ››Wo ist denn Tante Anna?‹‹ fragte ich unaufhörlich.
››Die ist Milch holen gegangen bei Meilickes!‹‹ antwortet Großmutter mit einer Stimme, die mir merkwürdig unsicher vorkam. Meilickes waren unsere Milchbauern.
Was hatte Tante Anna ausgerechnet am Abend vor Weihnachten bei denen zu suchen? ››Ich sage erst etwas auf, wenn sie wieder da ist‹‹, entschied ich. ››Tante Anna soll das miterleben!‹‹
Der Nikolaus mußte schallend lachen. Er lachte so sehr, daß er mir ganz schnell meine Gaben überreichen mußte. Dann machte er, daß er fortkam.
Natürlich steckte meine geliebte Anna hinter dieser Maske. Sie amüsierte sich köstlich über meine Schüchternheit.

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