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Tante Mia war die ältere Schwester von Franz. Sie wurde am 6. September 1883 in Sonnenburg geboren, einem Ort, der von Limmritz sieben Kilometer entfernt war. In der Familie galt sie als etwas besonderes.
Wie auch Franz bemühte sich Mia erfolgreich darum, in Sonnenburg die sogenannte Bürgerschule besuchen zu können, die mit der Mittelschule vergleichbar war. Sie war sprachlich interessiert und konnte gut Englisch.
Da ihre Eltern kurz nacheinander starben, bevor sie volljährig wurden, waren Mia und Franz frühzeitig auf sich allein gestellt. Ein Onkel übernahm die Vormundschaft für die Geschwister.
1901 zog Mia nach Berlin. Dort wohnte sie bei einer alten, verwitweten Tante, die im Bezirk Pankow eine Eierlikör-Firma besaß. Von 1901 bis 1903 besuchte Mia in Berlin die Strahlendorfsche Handelsschule. In welcher Straße sich die Schule befand, weiß ich leider nicht mehr.
Nach ihrer Ausbildung war Mia zunächst als Englischkorrespondentin tätig. Im Jahr 1911 kam sie zur Firma AEG, der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, die Turbinen, Haushaltsgeräte und vieles mehr herstellte. Ihr Büro befand sich in Berlin-Moabit, in der Huttenstraße. Mia arbeitete sich bis zur Direktionssekretärin hoch. Sie blieb auf diesem Posten, bis sie 1945 aus gesundheitlichen Gründen aus der Firma ausschied und in Rente ging.
Die AEG schenkte ihr 1936 zu ihrem 25. Dienstjubiläum ein Bild des Malers F. Beuermann, das die märkische Landschaft bei Buckow zeigt. Sie ähnelt der Landschaft im Warthebruch.
Ich bewunderte Tante Mia, weil sie als unverheiratete Frau diese gute Stellung erreicht hatte, und war stolz auf meine tolle Tante. Wenn sie nach Limmritz kam, freute ich mich auf sie. Jeden ihrer Besuche erwartete ich ungeduldig. Sie war mein Vorbild. Ebenso wie ich war sie ohne leibliche Eltern frühzeitig auf sich gestellt. Unter solchen Umständen ist man mehr auf seine Umwelt angewiesen und nimmt die anderen Menschen intensiver wahr, weil man von ihnen abhängig ist. Später engagiert man sich mehr im Leben, denn man hat Mitgefühl für die Nöte anderer Menschen entwickelt.
Mia gehörte zu uns und war jederzeit in unserem Haus willkommen. In der Familie wurde sie hochgeachtet. Dennoch begegnete man ihr mit etwas Distanz. Sie war anders als die anderen Frauen, die ihre Kinder aufzogen, ihren Mann und ihren Haushalt versorgten. Mia war liebevoll, herzlich und sehr aktiv. Sie reiste viel, lief Ski und brachte stets neue Anregungen in unser Haus.
Für mich interessierte sie sich von Anfang an. Regelmäßig versorgte sie mich Leseratte mit Literatur. Mia war der Ansicht, daß ich unbedingt etwas Ordentliches lernen sollte. Als ich schließlich Fürsorgerin wurde, war sie begeistert.
Einmal, ich hatte bereits meine Ausbildung als Krankenschwester abgeschlossen, lag Tante Mia im Krankenhaus. Ich besuchte sie in meiner Schwesterntracht. Mia war hingerissen von mir. Später erzählte sie mir, daß sich das Verhältnis der Schwestern und Ärzte zu ihr sofort nach meinem Erscheinen verändert hatte: ››Nachdem sie dich gesehen hatten, waren sie viel freundlicher.‹‹
Als Mia in Berlin lebte, kam sie an den Wochenenden häufig nach Limmritz. Sie besuchte uns zu jedem Geburtstag und zu allen Festen. Oft verbrachte sie auch ihren Urlaub bei uns. Mit dem D-Zug fuhr Mia von Berlin nur anderthalb Stunden bis nach Küstrin. Franz holte sie von dort mit dem Motorrad ab.
Als Zwölfjährige durfte ich zum ersten Mal zu Tante Mia nach Berlin. Für mich war das ein großartiges Erlebnis, eine halbe Weltreise! Mia erwartete mich am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof. Wir fuhren mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Zoo, um ins ››Kaufhaus des Westens‹‹, das berühmte KaDeWe, zu gehen. Bei einem späteren Besuch, ich war gerade vierzehn Jahre alt, besuchte sie mit mir die Operette ››Himmelblaue Träume‹‹. Das war mein erster Theaterbesuch - überwältigend!
Die bildungshungrige Tante Mia wollte mich fördern, damit ich aus dem ländlich-kleinstädtischen Milieu herauskam. Vielleicht verdanke ich es wirklich ihrem Einfluß, daß ich heute in Berlin wohne.
Tante Mia starb 1955 in West-Berlin.
Die Scheune
Fabers wohnten in dem Haus, das Großvater 1895 erbaut hatte. Es war massiv und solide. Trotzdem träumte Franz davon, ein eigenes Grundstück zu besitzen. Deshalb trug er sich jahrelang mit dem Gedanken, etwas Eigenes zu erwerben oder aus Limmritz fortzuziehen.
Lange Zeit erwogen Franz und Anna, in Richtung Berlin zu ziehen. Die Gegend um Strausberg gefiel ihnen gut. Nachdem meine Großmutter 1928 mit dem Kutschwagen verunglückte, entschied Anna, daß sie in Limmritz bleiben sollten. Anna wollte ihre pflegebedürftige Mutter nicht allein lassen. Fabers entschlossen sich, Großmutter das Grundstück abzukaufen, auf dem wir wohnten. Franz ließ Anna ins Grundbuch eintragen.
Auf dem Grundstück befand sich eine Scheune, die nicht genutzt wurde. Mein Großvater hatte sie seinerzeit an einen Bauern zur Lagerung von Getreide verpachtet. Hinter der Scheune spielten Kurt und ich ››Paxeball‹‹ - wir warfen den Ball an die Wand. Seitlich der Scheune befanden sich Pferde- und Kuhstall, dahinter Schweine- und Schafstall und die Remise.
1933 ließ Franz die Scheune zu einem Wohnhaus ausbauen. Im darauffolgenden Winter war sie noch unbewohnt, weil sie nach den Arbeiten trocknen mußte. Am 1. April 1934 war das Haus bezugsfertig.
Die Scheune hatte nun sogenannte Berliner Fenster. Sie unterschieden sich völlig von den im Dorf üblichen Fenstern. Franz hatte lange dafür kämpfen müssen, bevor er vom Bauamt in der Kreisstadt die Genehmigung dafür bekam. Unterkellert war das Gebäude ohnehin. Großvater hatte seinerzeit solide gebaut.
Im Erdgeschoß befanden sich nun eine Dreizimmer- und eine Einzimmerwohnung, beide mit Küche. Eine weitere Zweizimmerwohnung wurde im Dachgeschoß eingerichtet. Die Küche und ein kleines Zimmer hatten schräge Wände. In diese Dachwohnung zog eine Witwe mit ihrer Tochter ein. Das Mädchen war nur ein paar Jahre älter als ich.
Bisher hatte es nur ein Klo auf dem Hof gegeben. Nun ließen Onkel Franz zusätzlich eine Toilette für zwei Parteien einbauen.
Eines Tages kamen Fabers auf die Idee, im ehemaligen Pferde- und Kuhstall eine Schrotmühle einzurichten. In Limmritz, das immerhin anderthalbtausend Einwohner hatte, gab es keine Mahlmühle. Die nächste war sieben Kilometer entfernt.
Franz Faber ließ sich über die Wirtschaftlichkeit einer solchen Mühle beraten und entschied sich dafür, den Versuch zu wagen. So entstand auf dem Faberschen Grundstück eine elektrische Schrotmühle. Franz nahm Verbindung zum Müllermeister Schulz aus der Gegend auf. Herr Schulz war einverstanden, die Mühle zu pachten und sich damit selbständig zu machen.
Herr Schulz siedelte mit seiner Frau und seinem fünfjährigen Sohn nach Limmritz über. Die Familie zog ins Erdgeschoß der rekonstruierten Scheune und bewohnte die Dreizimmerwohnung. In der anderen Wohnung im Erdgeschoß lebte das alte Ehepaar Golze.
Am 6. Februar 1938 starb meine Großmutter. Sie hatte seit 1925 im Ausgedinge gelebt. Nach ihrem Tod wurde die Wohnung an Hollmanns vermietet. Dieses Ehepaar war von Berlin nach Limmritz gezogen, um als Rentner noch ein paar beschauliche Jahre auf dem Land zu verbringen.
Allmählich wurde die Frage nach Erben aktuell. Da Fabers kinderlos waren, kamen meine Schwester Gerda und ich in Frage. Außerdem waren da noch Martha und Karl Wolf, die Kinder von Annas ältester Schwester. Wir wären also vier Erben gewesen.
1934, als ich zehn Jahre alt war, setzten Fabers allerdings ein Testament zu meinen Gunsten auf. Es wies mich als einzige Erbin aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte alles anders kommen.
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