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Nach ihrem Unfall im Herbst 1928 war meine Großmutter Antonie pflegebedürftig. Natürlich wurde sie zu Hause versorgt. Niemand hätte einen Angehörigen in ein Heim gegeben. Es war Sitte, Kranke und Ältere im eigenen Haushalt zu betreuen.
Da Anna nicht berufstätig war, konnte sie sich um ihre Mutter kümmern. Auch Franz umsorgte Großmutter rührend und half, wo er konnte. Er war ein wunderbarer Schwiegersohn.
Als ich zwölf Jahre alt war, durfte ich Anna bei der Pflege meiner Großmutter zur Hand gehen.
Antonie war nicht mehr in der Lage, ihr wunderschönes langes Haar zu kämmen und sich selbst zu waschen. Ich bürstete sie und half ihr beim Waschen und Anziehen. Ich begleitete sie zur Toilette. Da es im Dorf noch keine Kanalisation gab, mußte man über den Hof laufen, um zum Abort zu kommen.
Ich sehe Antonie noch vor mir. Sie trug einen langen Rock, der unten mit einer Stoßborte eingefaßt war.
Leider baute sie während ihrer langen Krankheit geistig ab. Sie konnte sich nicht mehr erklären, woher die Musik kam, obwohl wir schon seit den zwanziger Jahren ein Radio besaßen.
Während dieser Zeit lernte ich, mit einem pflegebedürftigen Menschen umzugehen. Sicher rührte daher mein Wunsch, in der Krankenpflege zu arbeiten.
Großmutter war in den Wochen vor ihrem Tod nicht mehr ansprechbar. Anna und Franz erlaubten mir jedoch, gemeinsam mit ihnen in Großmutters Zimmer zu bleiben. Stets wachte jemand an Großmutters Bett, denn wir wußten, daß sie bald von uns gehen würde. Früher war es selbstverständlich, daß die Leute bis zu ihrem Tod zu Hause gepflegt wurden. Wenn ihr Ende nahte, ließ man sie nicht allein, sondern stand ihnen bei. So wie jeder neue Erdenbürger unter der Anteilnahme der gesamten Familie das Licht der Welt zu Hause erblickte, so schlossen die Leute auch in gewohnter heimischer Atmosphäre für immer ihre Augen.
Ich habe dieses langsame Sterben erlebt. Es ist ein geruhsamer, gemächlicher Tod, der den Menschen ereilt, wenn seine Zeit auf Erden abgelaufen ist. Dieser Tod hatte etwas Erhabenes. Er weckte tiefe Ehrfurcht in mir. Er war anders als dieses Aufbäumen von Menschen, die auf das Ende noch nicht vorbereitet sind.
Meine geliebte Großmutter starb am 6. Februar 1938, einem Sonntag. Dieser Tag wird mir für immer unvergeßlich bleiben, denn vier Tage zuvor war ich vierzehn Jahre alt geworden. Am Sonnabend fuhr ich - wie an jedem Wochenende - nach der Schule von Küstrin nach Limmritz.
Am 6. Februar, in den frühen Morgenstunden, war ich wohl zu müde, um noch länger an Großmutters Bett zu wachen. Anna und Franz schickten mich in mein Zimmer. Dort schlief ich ein.
Gegen zehn Uhr stand ich auf. Ich erinnere mich genau. Ich wartete in meinem weinroten Kleid, das Anna mit goldenen Bändchen verziert hatte, im Eßzimmer und schaute hinaus in den tiefverschneiten Garten.
Plötzlich trat Franz ins Zimmer. ››Komm mit rüber, Lottchen‹‹, sagte er, ››die Großmutter ist gestorben.‹‹
Entsprechend unserer Tradition wurde der Todesfall im Dorf bekannt gemacht, indem die traurige Nachricht von Haus zu Haus übermittelt wurde. Wie auf dem Land üblich, fand die Trauerfeier nicht in der Kirche statt, sondern im Hause der Trauernden.
Die Totenfrau wusch die Verstorbene. So, wie ich es später als Krankenschwester auch tat. Ich durfte Großmutter noch einmal anschauen, bevor sie mit ihrem gewellten, melierten Haar, das ich so oft gekämmt hatte, in den Sarg gelegt wurde. Ich lernte, dem Tod ohne Schrecken und Abscheu zu begegnen.
In diesem Moment des Abschieds erinnerte ich mich an ein Erlebnis mit meiner Großmutter: Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, besuchten wir gelegentlich ihre Freundin, deren Sohn eine Tischlerei besaß. ››Jetzt gehen wir zu der armen alten Frau Wiersdorf‹‹, sagte Großmutter und nahm mich bei der Hand.
Frau Wiersdorf war zwar im selben Alter wie Großmutter, aber sie konnte wegen einer Verletzung am Bein nicht mehr laufen. Wir verbrachten ein Plauderstündchen in ihrem Zimmer. Wenn wir uns verabschiedeten, sagte Großmutter jedesmal: ››Nun schauen wir in der Tischlerei nach, ob mein Sarg noch dort steht!‹‹
Die Leute auf dem Lande sorgten frühzeitig vor. Schon zu Lebzeiten bestellten sie ihren Sarg, denn er mußte eine Stunde nach dem Tod bereit sein. Die Grabstelle auf dem Friedhof wurde schon lange vor dem Greisenalter ausgesucht. Auf dem Dorf sind Erbbegräbnisse üblich. Das bedeutet, daß der Mensch an dem Ort beigesetzt wird, an dem seine Familienangehörigen beerdigt wurden.
Als Kind ging ich sonnabends mit der Großmutter gern zum Gießen und Harken auf den Friedhof. Ihre Grabstelle war mir vertraut. Meine Urgroßeltern und mein Großvater Karl ruhten bereits dort.
Am Donnerstag nach Großmutters Tod versammelten sich Verwandte und Freunde zur Trauerfeier. Bis dahin stand der Sarg im Zimmer. Im Sommer hätten wir die Verstorbene in der Waschküche oder in einem anderen kühlen Raum aufbahren müssen. Der Sarg wurde nicht verschlossen, damit wir die Tote jederzeit betrachten und Abschied nehmen konnten. Da es im Kreise der Familie geschah, entbehrte dieses Ritual aller Schrecken und Ängste.
Wer Großmutter noch einmal sehen wollte, stieg am Hauseingang die beiden Stufen hoch, durchquerte eine kleine Veranda und gelangte schließlich zu einer zweiflügeligen Tür. Dahinter befand sich der Sarg. Einige Trauergäste brachten Blumen mit. Sie wurden um den Sarg aufgestellt.
Wer in unser Zimmer wollte, mußte am offenen Sarg vorbeigehen. Das Eßzimmer richteten wir für die Trauerandacht her. Sie wurde von Pfarrer Treder gehalten.
Wie alle anderen Familien besaßen wir ein Büffet mit Anrichte und Spiegel. Davor waren Kristallrömer aufbaut. Nach Großmutters Tod verhüllten wir den Spiegel mit einer schwarzen Decke. Er sah aus wie ein Altar. Den schweren Eßtisch aus Eiche schleppten wir in die Schlafstube. Auf dem freigewordenen Platz stellten wir mehrere Stuhlreihen auf. Dennoch reichten die Sitzgelegenheiten nicht für alle Gäste. Einige mußten stehen.
Nach der Trauerandacht nahmen die jüngeren Bauern und die Söhne von den Nachbarhöfen den Sarg auf ihre Schultern. Sie hoben ihn auf einen Wagen, der auf dem Hof wartete. Pferde, die mit schwarzen Umhängen geschmückt waren, zogen das Gefährt zum Friedhof.
Unser Haus lag am Rand des Dorfes, das an den Sternberger Höhenrücken angelehnt war. Wir wohnten im Unterdorf. Es war zwar nicht bergig, aber hügelig. Wir folgten dem Wagen die Chaussee hinauf ein ziemlich weites Stück bis zum Friedhof. Unterwegs kamen wir an vielen Häusern vorbei. Mehr und mehr Menschen schlossen sich unserem Trauerzug an.
Auf dem Friedhof hielt der Pfarrer eine kurze Trauerrede. Wer bis dahin noch nicht in Tränen ausgebrochen war, fing nun an zu weinen. Auf dem Lande sind Beerdigungen ergreifend, weil alle den Verstorbenen gekannt haben.
Als wir in unser Haus zurückkehrten, hatten Bekannte inzwischen aufgeräumt und den Tisch gedeckt. Wir setzten uns nieder zum Totenschmaus. In Erwartung vieler Gäste hatten wir sogar eine Kochfrau bestellt. Sie hatte aus 25 Pfund Mehl Kuchen gebacken. Man stelle sich diese Menge vor!
Auf dem Land war es üblich, die Verstorbenen mit einer großen Trauerfeier zu würdigen. Es waren regelrechte Familientreffen. Die Verwandten kamen von überall. Der Bruder meiner Großmutter reiste mit seiner Familie aus Bomst an, das vierzig Kilometer von Limmritz entfernt ist. Eine 78jährige Frau fuhr zirka zwanzig Kilometer mit dem Fahrrad. Sie nahm diese Strapaze mitten im Winter auf sich - trotz Schnee und Eisglätte!
Die auswärtigen Gäste übernachteten bei uns. Deshalb mußte ich bei Bekannten schlafen. Nach Großmutters Beerdigung ging ich eine Woche lang nicht zur Schule.
Als meine Großmutter starb, war sie 76 Jahre alt. An jenem Wintertag dachte ich daran, daß wir das Jahr 2000 schreiben würden, wenn ich ebenso alt wäre wie sie. Jetzt, im Jahre 2002, lebe ich immer noch. Nur mein lieber Mann Kurt ist schon tot.
In meinem späteren Leben kam ich als Krankenschwester viel mit Alten und Todkranken in Berührung. Ich wachte an ihrem Bett und stand ihnen in ihren letzten Stunden bei. Aus dieser Erfahrung heraus weiß ich, wie schwer es ist, wenn alte Menschen völlig alleingelassen in einem Krankenhaus sterben müssen. Nur, weil die Verwandten ihren Urlaub nicht absagen wollten ...
Ich möchte - wie meine Großmutter Antonie - in meiner letzten Stunde auch einen vertrauten Menschen an meiner Seite haben. Ich will mein Leben nicht auf der Intensivstation eines Krankenhauses beenden, wo mein Körper mit Schläuchen an eine Apparatur gefesselt ist.
Heutzutage fürchten sich die Menschen vor der Berührung mit dem Tod. Sie möchten am liebsten alles an andere delegieren, an Krankenschwestern und Ärzte. Es scheint, als würde der Tod nicht mehr in unsere schnellebige Welt passen, in der nur Jugend und Schönheit zählen.
Die Natur kümmert sich nicht um die modischen Erscheinungen der Welt. Sie folgt ihren Gesetzen wie eh und je. Dazu gehören Kommen und Gehen, Geburt und Sterben.
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