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Nach ihrem Unfall im Herbst 1928 war meine Großmutter Antonie pflegebedürftig. Natürlich wurde sie zu Hause versorgt. Niemand hätte einen Angehörigen in ein Heim gegeben. Es war Sitte, Kranke und Ältere im eigenen Haushalt zu betreuen.
Da Anna nicht berufstätig war, konnte sie sich um ihre Mutter kümmern. Auch Franz umsorgte Großmutter rührend und half, wo er konnte. Er war ein wunderbarer Schwiegersohn.
Als ich zwölf Jahre alt war, durfte ich Anna bei der Pflege meiner Großmutter zur Hand gehen.
Antonie war nicht mehr in der Lage, ihr wunderschönes langes Haar zu kämmen und sich selbst zu waschen. Ich bürstete sie und half ihr beim Waschen und Anziehen. Ich begleitete sie zur Toilette. Da es im Dorf noch keine Kanalisation gab, mußte man über den Hof laufen, um zum Abort zu kommen.
Ich sehe Antonie noch vor mir. Sie trug einen langen Rock, der unten mit einer Stoßborte eingefaßt war.
Leider baute sie während ihrer langen Krankheit geistig ab. Sie konnte sich nicht mehr erklären, woher die Musik kam, obwohl wir schon seit den zwanziger Jahren ein Radio besaßen.
Während dieser Zeit lernte ich, mit einem pflegebedürftigen Menschen umzugehen. Sicher rührte daher mein Wunsch, in der Krankenpflege zu arbeiten.
Großmutter war in den Wochen vor ihrem Tod nicht mehr ansprechbar. Anna und Franz erlaubten mir jedoch, gemeinsam mit ihnen in Großmutters Zimmer zu bleiben. Stets wachte jemand an Großmutters Bett, denn wir wußten, daß sie bald von uns gehen würde. Früher war es selbstverständlich, daß die Leute bis zu ihrem Tod zu Hause gepflegt wurden. Wenn ihr Ende nahte, ließ man sie nicht allein, sondern stand ihnen bei. So wie jeder neue Erdenbürger unter der Anteilnahme der gesamten Familie das Licht der Welt zu Hause erblickte, so schlossen die Leute auch in gewohnter heimischer Atmosphäre für immer ihre Augen.
Ich habe dieses langsame Sterben erlebt. Es ist ein geruhsamer, gemächlicher Tod, der den Menschen ereilt, wenn seine Zeit auf Erden abgelaufen ist. Dieser Tod hatte etwas Erhabenes. Er weckte tiefe Ehrfurcht in mir. Er war anders als dieses Aufbäumen von Menschen, die auf das Ende noch nicht vorbereitet sind.
Meine geliebte Großmutter starb am 6. Februar 1938, einem Sonntag. Dieser Tag wird mir für immer unvergeßlich bleiben, denn vier Tage zuvor war ich vierzehn Jahre alt geworden. Am Sonnabend fuhr ich - wie an jedem Wochenende - nach der Schule von Küstrin nach Limmritz.
Am 6. Februar, in den frühen Morgenstunden, war ich wohl zu müde, um noch länger an Großmutters Bett zu wachen. Anna und Franz schickten mich in mein Zimmer. Dort schlief ich ein.
Gegen zehn Uhr stand ich auf. Ich erinnere mich genau. Ich wartete in meinem weinroten Kleid, das Anna mit goldenen Bändchen verziert hatte, im Eßzimmer und schaute hinaus in den tiefverschneiten Garten.
Plötzlich trat Franz ins Zimmer. ››Komm mit rüber, Lottchen‹‹, sagte er, ››die Großmutter ist gestorben.‹‹
Entsprechend unserer Tradition wurde der Todesfall im Dorf bekannt gemacht, indem die traurige Nachricht von Haus zu Haus übermittelt wurde. Wie auf dem Land üblich, fand die Trauerfeier nicht in der Kirche statt, sondern im Hause der Trauernden.
Die Totenfrau wusch die Verstorbene. So, wie ich es später als Krankenschwester auch tat. Ich durfte Großmutter noch einmal anschauen, bevor sie mit ihrem gewellten, melierten Haar, das ich so oft gekämmt hatte, in den Sarg gelegt wurde. Ich lernte, dem Tod ohne Schrecken und Abscheu zu begegnen.
In diesem Moment des Abschieds erinnerte ich mich an ein Erlebnis mit meiner Großmutter: Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, besuchten wir gelegentlich ihre Freundin, deren Sohn eine Tischlerei besaß. ››Jetzt gehen wir zu der armen alten Frau Wiersdorf‹‹, sagte Großmutter und nahm mich bei der Hand.
Frau Wiersdorf war zwar im selben Alter wie Großmutter, aber sie konnte wegen einer Verletzung am Bein nicht mehr laufen. Wir verbrachten ein Plauderstündchen in ihrem Zimmer. Wenn wir uns verabschiedeten, sagte Großmutter jedesmal: ››Nun schauen wir in der Tischlerei nach, ob mein Sarg noch dort steht!‹‹
Die Leute auf dem Lande sorgten frühzeitig vor. Schon zu Lebzeiten bestellten sie ihren Sarg, denn er mußte eine Stunde nach dem Tod bereit sein. Die Grabstelle auf dem Friedhof wurde schon lange vor dem Greisenalter ausgesucht. Auf dem Dorf sind Erbbegräbnisse üblich. Das bedeutet, daß der Mensch an dem Ort beigesetzt wird, an dem seine Familienangehörigen beerdigt wurden.
Als Kind ging ich sonnabends mit der Großmutter gern zum Gießen und Harken auf den Friedhof. Ihre Grabstelle war mir vertraut. Meine Urgroßeltern und mein Großvater Karl ruhten bereits dort.
Am Donnerstag nach Großmutters Tod versammelten sich Verwandte und Freunde zur Trauerfeier. Bis dahin stand der Sarg im Zimmer. Im Sommer hätten wir die Verstorbene in der Waschküche oder in einem anderen kühlen Raum aufbahren müssen. Der Sarg wurde nicht verschlossen, damit wir die Tote jederzeit betrachten und Abschied nehmen konnten. Da es im Kreise der Familie geschah, entbehrte dieses Ritual aller Schrecken und Ängste.
Wer Großmutter noch einmal sehen wollte, stieg am Hauseingang die beiden Stufen hoch, durchquerte eine kleine Veranda und gelangte schließlich zu einer zweiflügeligen Tür. Dahinter befand sich der Sarg. Einige Trauergäste brachten Blumen mit. Sie wurden um den Sarg aufgestellt.
Wer in unser Zimmer wollte, mußte am offenen Sarg vorbeigehen. Das Eßzimmer richteten wir für die Trauerandacht her. Sie wurde von Pfarrer Treder gehalten.
Wie alle anderen Familien besaßen wir ein Büffet mit Anrichte und Spiegel. Davor waren Kristallrömer aufbaut. Nach Großmutters Tod verhüllten wir den Spiegel mit einer schwarzen Decke. Er sah aus wie ein Altar. Den schweren Eßtisch aus Eiche schleppten wir in die Schlafstube. Auf dem freigewordenen Platz stellten wir mehrere Stuhlreihen auf. Dennoch reichten die Sitzgelegenheiten nicht für alle Gäste. Einige mußten stehen.
Nach der Trauerandacht nahmen die jüngeren Bauern und die Söhne von den Nachbarhöfen den Sarg auf ihre Schultern. Sie hoben ihn auf einen Wagen, der auf dem Hof wartete. Pferde, die mit schwarzen Umhängen geschmückt waren, zogen das Gefährt zum Friedhof.
Unser Haus lag am Rand des Dorfes, das an den Sternberger Höhenrücken angelehnt war. Wir wohnten im Unterdorf. Es war zwar nicht bergig, aber hügelig. Wir folgten dem Wagen die Chaussee hinauf ein ziemlich weites Stück bis zum Friedhof. Unterwegs kamen wir an vielen Häusern vorbei. Mehr und mehr Menschen schlossen sich unserem Trauerzug an.
Auf dem Friedhof hielt der Pfarrer eine kurze Trauerrede. Wer bis dahin noch nicht in Tränen ausgebrochen war, fing nun an zu weinen. Auf dem Lande sind Beerdigungen ergreifend, weil alle den Verstorbenen gekannt haben.
Als wir in unser Haus zurückkehrten, hatten Bekannte inzwischen aufgeräumt und den Tisch gedeckt. Wir setzten uns nieder zum Totenschmaus. In Erwartung vieler Gäste hatten wir sogar eine Kochfrau bestellt. Sie hatte aus 25 Pfund Mehl Kuchen gebacken. Man stelle sich diese Menge vor!
Auf dem Land war es üblich, die Verstorbenen mit einer großen Trauerfeier zu würdigen. Es waren regelrechte Familientreffen. Die Verwandten kamen von überall. Der Bruder meiner Großmutter reiste mit seiner Familie aus Bomst an, das vierzig Kilometer von Limmritz entfernt ist. Eine 78jährige Frau fuhr zirka zwanzig Kilometer mit dem Fahrrad. Sie nahm diese Strapaze mitten im Winter auf sich - trotz Schnee und Eisglätte!
Die auswärtigen Gäste übernachteten bei uns. Deshalb mußte ich bei Bekannten schlafen. Nach Großmutters Beerdigung ging ich eine Woche lang nicht zur Schule.
Als meine Großmutter starb, war sie 76 Jahre alt. An jenem Wintertag dachte ich daran, daß wir das Jahr 2000 schreiben würden, wenn ich ebenso alt wäre wie sie. Jetzt, im Jahre 2002, lebe ich immer noch. Nur mein lieber Mann Kurt ist schon tot.
In meinem späteren Leben kam ich als Krankenschwester viel mit Alten und Todkranken in Berührung. Ich wachte an ihrem Bett und stand ihnen in ihren letzten Stunden bei. Aus dieser Erfahrung heraus weiß ich, wie schwer es ist, wenn alte Menschen völlig alleingelassen in einem Krankenhaus sterben müssen. Nur, weil die Verwandten ihren Urlaub nicht absagen wollten ...
Ich möchte - wie meine Großmutter Antonie - in meiner letzten Stunde auch einen vertrauten Menschen an meiner Seite haben. Ich will mein Leben nicht auf der Intensivstation eines Krankenhauses beenden, wo mein Körper mit Schläuchen an eine Apparatur gefesselt ist.
Heutzutage fürchten sich die Menschen vor der Berührung mit dem Tod. Sie möchten am liebsten alles an andere delegieren, an Krankenschwestern und Ärzte. Es scheint, als würde der Tod nicht mehr in unsere schnellebige Welt passen, in der nur Jugend und Schönheit zählen.
Die Natur kümmert sich nicht um die modischen Erscheinungen der Welt. Sie folgt ihren Gesetzen wie eh und je. Dazu gehören Kommen und Gehen, Geburt und Sterben.
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Tante Mia war die ältere Schwester von Franz. Sie wurde am 6. September 1883 in Sonnenburg geboren, einem Ort, der von Limmritz sieben Kilometer entfernt war. In der Familie galt sie als etwas besonderes.
Wie auch Franz bemühte sich Mia erfolgreich darum, in Sonnenburg die sogenannte Bürgerschule besuchen zu können, die mit der Mittelschule vergleichbar war. Sie war sprachlich interessiert und konnte gut Englisch.
Da ihre Eltern kurz nacheinander starben, bevor sie volljährig wurden, waren Mia und Franz frühzeitig auf sich allein gestellt. Ein Onkel übernahm die Vormundschaft für die Geschwister.
1901 zog Mia nach Berlin. Dort wohnte sie bei einer alten, verwitweten Tante, die im Bezirk Pankow eine Eierlikör-Firma besaß. Von 1901 bis 1903 besuchte Mia in Berlin die Strahlendorfsche Handelsschule. In welcher Straße sich die Schule befand, weiß ich leider nicht mehr.
Nach ihrer Ausbildung war Mia zunächst als Englischkorrespondentin tätig. Im Jahr 1911 kam sie zur Firma AEG, der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, die Turbinen, Haushaltsgeräte und vieles mehr herstellte. Ihr Büro befand sich in Berlin-Moabit, in der Huttenstraße. Mia arbeitete sich bis zur Direktionssekretärin hoch. Sie blieb auf diesem Posten, bis sie 1945 aus gesundheitlichen Gründen aus der Firma ausschied und in Rente ging.
Die AEG schenkte ihr 1936 zu ihrem 25. Dienstjubiläum ein Bild des Malers F. Beuermann, das die märkische Landschaft bei Buckow zeigt. Sie ähnelt der Landschaft im Warthebruch.
Ich bewunderte Tante Mia, weil sie als unverheiratete Frau diese gute Stellung erreicht hatte, und war stolz auf meine tolle Tante. Wenn sie nach Limmritz kam, freute ich mich auf sie. Jeden ihrer Besuche erwartete ich ungeduldig. Sie war mein Vorbild. Ebenso wie ich war sie ohne leibliche Eltern frühzeitig auf sich gestellt. Unter solchen Umständen ist man mehr auf seine Umwelt angewiesen und nimmt die anderen Menschen intensiver wahr, weil man von ihnen abhängig ist. Später engagiert man sich mehr im Leben, denn man hat Mitgefühl für die Nöte anderer Menschen entwickelt.
Mia gehörte zu uns und war jederzeit in unserem Haus willkommen. In der Familie wurde sie hochgeachtet. Dennoch begegnete man ihr mit etwas Distanz. Sie war anders als die anderen Frauen, die ihre Kinder aufzogen, ihren Mann und ihren Haushalt versorgten. Mia war liebevoll, herzlich und sehr aktiv. Sie reiste viel, lief Ski und brachte stets neue Anregungen in unser Haus.
Für mich interessierte sie sich von Anfang an. Regelmäßig versorgte sie mich Leseratte mit Literatur. Mia war der Ansicht, daß ich unbedingt etwas Ordentliches lernen sollte. Als ich schließlich Fürsorgerin wurde, war sie begeistert.
Einmal, ich hatte bereits meine Ausbildung als Krankenschwester abgeschlossen, lag Tante Mia im Krankenhaus. Ich besuchte sie in meiner Schwesterntracht. Mia war hingerissen von mir. Später erzählte sie mir, daß sich das Verhältnis der Schwestern und Ärzte zu ihr sofort nach meinem Erscheinen verändert hatte: ››Nachdem sie dich gesehen hatten, waren sie viel freundlicher.‹‹
Als Mia in Berlin lebte, kam sie an den Wochenenden häufig nach Limmritz. Sie besuchte uns zu jedem Geburtstag und zu allen Festen. Oft verbrachte sie auch ihren Urlaub bei uns. Mit dem D-Zug fuhr Mia von Berlin nur anderthalb Stunden bis nach Küstrin. Franz holte sie von dort mit dem Motorrad ab.
Als Zwölfjährige durfte ich zum ersten Mal zu Tante Mia nach Berlin. Für mich war das ein großartiges Erlebnis, eine halbe Weltreise! Mia erwartete mich am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof. Wir fuhren mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Zoo, um ins ››Kaufhaus des Westens‹‹, das berühmte KaDeWe, zu gehen. Bei einem späteren Besuch, ich war gerade vierzehn Jahre alt, besuchte sie mit mir die Operette ››Himmelblaue Träume‹‹. Das war mein erster Theaterbesuch - überwältigend!
Die bildungshungrige Tante Mia wollte mich fördern, damit ich aus dem ländlich-kleinstädtischen Milieu herauskam. Vielleicht verdanke ich es wirklich ihrem Einfluß, daß ich heute in Berlin wohne.
Tante Mia starb 1955 in West-Berlin.
Die Scheune
Fabers wohnten in dem Haus, das Großvater 1895 erbaut hatte. Es war massiv und solide. Trotzdem träumte Franz davon, ein eigenes Grundstück zu besitzen. Deshalb trug er sich jahrelang mit dem Gedanken, etwas Eigenes zu erwerben oder aus Limmritz fortzuziehen.
Lange Zeit erwogen Franz und Anna, in Richtung Berlin zu ziehen. Die Gegend um Strausberg gefiel ihnen gut. Nachdem meine Großmutter 1928 mit dem Kutschwagen verunglückte, entschied Anna, daß sie in Limmritz bleiben sollten. Anna wollte ihre pflegebedürftige Mutter nicht allein lassen. Fabers entschlossen sich, Großmutter das Grundstück abzukaufen, auf dem wir wohnten. Franz ließ Anna ins Grundbuch eintragen.
Auf dem Grundstück befand sich eine Scheune, die nicht genutzt wurde. Mein Großvater hatte sie seinerzeit an einen Bauern zur Lagerung von Getreide verpachtet. Hinter der Scheune spielten Kurt und ich ››Paxeball‹‹ - wir warfen den Ball an die Wand. Seitlich der Scheune befanden sich Pferde- und Kuhstall, dahinter Schweine- und Schafstall und die Remise.
1933 ließ Franz die Scheune zu einem Wohnhaus ausbauen. Im darauffolgenden Winter war sie noch unbewohnt, weil sie nach den Arbeiten trocknen mußte. Am 1. April 1934 war das Haus bezugsfertig.
Die Scheune hatte nun sogenannte Berliner Fenster. Sie unterschieden sich völlig von den im Dorf üblichen Fenstern. Franz hatte lange dafür kämpfen müssen, bevor er vom Bauamt in der Kreisstadt die Genehmigung dafür bekam. Unterkellert war das Gebäude ohnehin. Großvater hatte seinerzeit solide gebaut.
Im Erdgeschoß befanden sich nun eine Dreizimmer- und eine Einzimmerwohnung, beide mit Küche. Eine weitere Zweizimmerwohnung wurde im Dachgeschoß eingerichtet. Die Küche und ein kleines Zimmer hatten schräge Wände. In diese Dachwohnung zog eine Witwe mit ihrer Tochter ein. Das Mädchen war nur ein paar Jahre älter als ich.
Bisher hatte es nur ein Klo auf dem Hof gegeben. Nun ließen Onkel Franz zusätzlich eine Toilette für zwei Parteien einbauen.
Eines Tages kamen Fabers auf die Idee, im ehemaligen Pferde- und Kuhstall eine Schrotmühle einzurichten. In Limmritz, das immerhin anderthalbtausend Einwohner hatte, gab es keine Mahlmühle. Die nächste war sieben Kilometer entfernt.
Franz Faber ließ sich über die Wirtschaftlichkeit einer solchen Mühle beraten und entschied sich dafür, den Versuch zu wagen. So entstand auf dem Faberschen Grundstück eine elektrische Schrotmühle. Franz nahm Verbindung zum Müllermeister Schulz aus der Gegend auf. Herr Schulz war einverstanden, die Mühle zu pachten und sich damit selbständig zu machen.
Herr Schulz siedelte mit seiner Frau und seinem fünfjährigen Sohn nach Limmritz über. Die Familie zog ins Erdgeschoß der rekonstruierten Scheune und bewohnte die Dreizimmerwohnung. In der anderen Wohnung im Erdgeschoß lebte das alte Ehepaar Golze.
Am 6. Februar 1938 starb meine Großmutter. Sie hatte seit 1925 im Ausgedinge gelebt. Nach ihrem Tod wurde die Wohnung an Hollmanns vermietet. Dieses Ehepaar war von Berlin nach Limmritz gezogen, um als Rentner noch ein paar beschauliche Jahre auf dem Land zu verbringen.
Allmählich wurde die Frage nach Erben aktuell. Da Fabers kinderlos waren, kamen meine Schwester Gerda und ich in Frage. Außerdem waren da noch Martha und Karl Wolf, die Kinder von Annas ältester Schwester. Wir wären also vier Erben gewesen.
1934, als ich zehn Jahre alt war, setzten Fabers allerdings ein Testament zu meinen Gunsten auf. Es wies mich als einzige Erbin aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte alles anders kommen.
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Nicht weit von unserem Haus in Limmritz entfernt, in der Bruchstraße 14, stand das Haus der Familie Guse. Dort kam mein späterer Mann Kurt am 15. April 1922 zur Welt, und dort verbrachte er seine ersten Lebensjahre. Sein Vater war Gastwirt. Er führte das ››Deutsche Haus‹‹. In dem Gebäude befanden sich ein Tanzsaal und drei Gästezimmer. Davor wuchs ein herrlicher Kastanienbaum. Er breitet dort noch heute seine prächtige Krone aus.
Wenn ich Reisegruppen nach Limmritz führe, zeige ich ihnen den altehrwürdigen Baum. Das Gusesche Haus wurde hingegen zerstört.
Hermann Guse, Kurts Vater, wurde am 21. September 1889 geboren. Frieda Guse, geborene Vorwerk, kam am 19. Februar 1896 zur Welt. Sie heirateten im November 1919 in Drossen.
Hermann war ein liebenswerter Mann. Da er die Freiwillige Feuerwehr organisierte und selbst Feuerwehrmann war, kam er viel im Dorf herum. Frieda, eher zurückhaltend, ließ die Menschen nicht so dicht an sich heran. Kurt war ihr einziges Kind. ››Ich kann mich nicht daran erinnern, daß meine Mutter mich jemals in den Arm genommen hätte‹‹, erzählte Kurt später.
Kurts Großmutter war hingegen ebenso wundervoll wie meine. Sie lebte im Guseschen Haushalt. Hatte Kurt sich einen Dreiangel in seine Hose gerissen, ging er zur Großmutter. Sie flickte ihm seine Sachen.
In Limmritz gab es drei Gasthäuser. Wenn im Dorf große Feste veranstaltet wurden, wechselten sie sich mit der Bewirtung ab.
So war es auch beim Schützenfest. Gastwirt Guse ließ im Wald, an einer romantischen Quelle, einen Getränkestand aufbauen. Ein anderes Gasthaus richtete am Abend den Schützenball aus. Im nächsten Jahr wurde getauscht, und Hermann Guse war für den Schützenball verantwortlich.
Das Schützenfest war für uns Limmritzer wohl das größte Ereignis des Jahres. Da versammelte sich Jung und Alt. Kleine Mädchen eilten herbei, Jugendliche, Mütter und Väter und ältere Leute.
Am späten Nachmittag kehrte der Schützenkönig aus dem Wald ins Dorf zurück. Der Zweitplazierte begleitete ihn. Ihnen folgten junge Mädchen in weißen Gewändern. Sie trugen Schärpen aus Eichenblättern. Es dauerte eine halbe Stunde, bis diese Prozession im Dorf angekommen war. Nach ihrem Eintreffen wurde der Schützenball gefeiert. Wir Kleinen durften noch nicht ins Gasthaus. Wir hockten uns aufs Fensterbrett und linsten in den Tanzsaal.
Im Dorf gab es mehrere Vereine. Für den Theaterverein malte Franz Faber die Kulissen, und der Lehrer stellte die Texte zusammen. Im Turnverein trafen sich die Handwerker. Für die freiwillige Feuerwehr war Hermann Guse mitverantwortlich. Da die Limmritzer das Vereinsleben liebten, wurde ständig irgendein Vergnügen organisiert.
Als ich vierzehn Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zum ersten Mal auf einen Ball mit. Es kostete mich einige Überwindung. Ich war zu schüchtern, um an solchen Vergnügen Gefallen zu finden. Franz tanzte auch nicht gern. Meine Mutter Anna hingegen war eine leidenschaftliche Tänzerin.
1939 brach der Krieg aus. Erst nachdem Hitler über Polen gesiegt hatte, durften wieder Bälle veranstaltet werden. Zu meiner Erleichterung gab es aber keine Tanzstunden mehr
- jedenfalls nicht in Küstrin.
Einmal tanzte ich in Guses Gasthaus mit Kurt. Für die Leute im Dorf stand fest, daß wir einander versprochen waren. Unsere Familien hätten wohl nichts gegen eine Heirat eingewandt. Sie wäre durchaus standesgemäß gewesen.
Zu jener Zeit begann das Leben auf dem Land sich zu verändern. Trotzdem gab es noch starke Bindungen, und althergebrachte Traditionen wurden gepflegt. Jeder kannte jeden. Man wußte alles über den Nachbarn, vor allem, wieviel Geld und wieviel Land er besaß. Wenn eine Ehe geschlossen wurde, spielte das Vermögen der beiden Partner eine bedeutende Rolle.
Eine meiner Freundinnen war mit einem jungen Mann liiert. Die beiden hätten gern geheiratet, aber die Mutter des Mannes war dagegen. ››Das Mädchen hat nicht genug Geld!‹‹ sagte sie. Daraufhin trennte er sich von ihr. Ein halbes Jahr später verlobte sich derselbe Mann mit einer anderen Freundin von mir. Sie kam aus einer begüterten Familie und hatte eine gute Aussteuer zu erwarten. Die beiden heirateten und führten eine glückliche Ehe, die mehr als fünfzig Jahre hielt.
So war das damals. Wir hatten uns dem Willen unserer Eltern zu fügen. Die Ehen wurden oft aus Gründen der Vernunft geschlossen. Das war keineswegs nur nachteilig.
Kurts Mutter hatte seinerzeit viel Geld mit in die Ehe gebracht. Ihr Vater besaß ein kleines Gut. Ich war mir nicht sicher, ob sie der Heirat von Kurt und mir zugestimmt hätte.
Als ich Jahrzehnte später endlich mit Kurt verheiratet war, fragte ich ihn: ››Was hätte deine Mutter wohl dazu gesagt, daß du mich nehmen willst?‹‹
Kurt zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete. ››Sie hätte sicher gesagt: ›Kochen kann sie gut, und ein Grundstück besitzt sie auch, also kannst du sie nehmen.‹ ‹‹ Das waren Kriterien, nach denen die Leute früher heirateten.
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