Donnerstag, 22. März 2007
Folge 4: Meine Großmutter-Mutter Antonie
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

Mein Buch bei Rohnstock Biografien
Mein Blog bei Rohnstock Biografien

Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern in der historischen Altstadt von Küstrin an der Oder. Sie hatten Am Markt 196 eine Wohnung mit mehreren Zimmern gemietet.
Obwohl sie nicht weit entfernt wohnten, hatte Hedwig kaum Kontakt zu ihrer Schwiegermutter. Meine Großmutter väterlicherseits hielt sich vor allem bei ihrer Tochter Ida auf, die mit ihrem Mann ein Bauernhaus im Warthebruch besaß. Idas Ehe blieb kinderlos. Diese Angehörigen meines Vaters lernte ich nicht näher kennen. Ich sah sie in meinem Leben nur ein einziges Mal.
Otto war ein guter Vater, ein liebenswürdiger, sanftmütiger Mensch. Er arbeitete als Bäcker- und Konditormeister. Da meine Mutter sich nicht damit arrangieren konnte, gab er sein Geschäft auf. Er fand eine Anstellung in einer großen Bäckerei. Dort wurde ein Bäcker- und Konditormeister gesucht, der sowohl für die Bevölkerung als auch fürs Militär backte. In dieser Bäckerei war mein Vater bis zum Kriegsende tätig.
Meine Geburt und meine Anwesenheit überforderten meine Mutter, denn sie liebte ihren Mann nicht. Sie konnte und wollte sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden, nur Ehefrau und Mutter zu sein. Deshalb war ihre Ehe von Anfang an von Zerwürfnissen geprägt.
Als ich zur Welt kam, war meine Mutter 34 Jahre alt, nach damaligem Verständnis viel zu alt für eine Erstgeburt. Ich war ein spilleriges Kind, und sie konnte mich nicht stillen. Erst nach einigen Jahren, als ich schon etwas älter war, fügte sich meine Mutter besser in ihre Rolle hinein. Sie hatte sich endlich mit ihrer Ehe abgefunden. Meine jüngere Schwester Gerda wurde etwas liebevoller erzogen als ich.
Im Frühling 1924 wurde ich getauft. Tante Anna war meine Patin. Ob sie wohl ahnte, welche Aufgabe ihr noch bevorstand?
Als meine Eltern mich aus dem Haus gaben, war ich gerade sieben Monate alt. Sie glaubten, mich nicht weiter bei sich behalten zu können, da sie sich in einer schwierigen finanziellen Situation befanden. Überall in Deutschland herrschte in diesen Jahren Verzweiflung und Elend. Viele Menschen litten Not. Die Folgen der Inflation und der Reparationskosten, die nach dem Krieg zu zahlen waren, machten sich überall bemerkbar. Im Juni 1923 kostete ein Pfund Margarine zwischen 7600 und 9600 Mark, ein Pfund Kartoffeln zwischen 112 und 130 Mark, ein Pfund Zucker 1400 bis 1500 Mark und ein Ei 800 bis 810 Mark.

Im Sommer 1924 kam ich also zu meinen Großeltern mütterlicherseits nach Limmritz. Ich bin überzeugt davon, daß meine Seele von der düsteren Stimmung in Küstrin bereits geprägt war. Großmutter Antonie und Großvater Karl pflegten mich rührend.
Obwohl Karl den Bauernhof nach dem Tod seines Sohnes verkauft hatte, wohnten die Großeltern auf dem Grundstück und hielten eine Kuh im Stall. Auf dem Lande war das so üblich. Man besaß ein paar Hühner und fütterte ein Schwein oder eine Kuh.
Meine Eltern kamen gelegentlich nach Limmritz zu Besuch. Trotzdem konnte ich zu ihnen keine Eltern-Kind-Beziehung aufbauen. Ihnen erging es wohl ähnlich. Da ich mich den Großeltern und Anna und Franz Faber zugehörig fühlte, störte mich die Kälte und Zwietracht zwischen meinen Eltern kaum.
Auf dem Hof in Limmritz wohnten wir alle zusammen: Großvater Karl, Großmutter Antonie, Anna, Franz und ich. An Großvater erinnere ich mich nicht, ich war noch zu klein, als er starb.

Mein Urgroßvater Gustav Thieme besaß einen Bauernhof in Freiberg/Warthebruch und ein Kolonialwarengeschäft in Woxfelde. Mit siebzehn Jahren heiratete Gustav seine Karoline. Mit ihr hatte er dreizehn Kinder. Nur sechs überlebten ihre Kindheit. An ihre Geburts- und Sterbedaten kann ich mich nicht erinnern. Sie waren in unsere Familienbibel eingetragen, die in den letzten Kriegstagen verlorenging. Das war ein großer Verlust für uns, denn wir liebten diese Bibel alle sehr.
Urgroßvater Gustav war ein Mann mit vielfältigen Talenten. Außer dem Geschäft und dem Bauernhof widmete er sich noch seiner Geige. Darauf spielte er besonders gern. Er besaß eine musische Ader und dichtete gelegentlich.
Großmutter Antonie, seine Tochter, war ihm in vielem ähnlich. Sie dichtete zwar nicht selbst, aber sie schrieb viele Gedichte auf. Von ihr habe ich wohl die Freude an Gedichten und am Schreiben geerbt. Antonie war eine wunderbare Frau.
Meine Großmutter war körperlich robust. Sie brachte sechs Kinder zur Welt, zwei davon starben. Obwohl sie äußerlich so stark war, besaß sie ein zartes Gemüt.
Als ich sehr klein war, blieb ich über Nacht in Antonies Schlafzimmer. Dort stand mein Bett. Als einer der Giebel ausgebaut wurde, bekam ich mein eigenes Zimmer.
Großmutter Antonie nannte ich Mutter, weil sie sich tatsächlich wie eine Mutter um mich kümmerte. Fabers waren für mich Tante Anna und Onkel ››Fanz‹‹. Als kleines Mädchen konnte ich das ››r‹‹ nicht aussprechen. Den guten Onkel ››Fanz‹‹ liebte ich so sehr, daß ich ihn sogar heiraten wollte. Da war ich vier oder fünf Jahre alt.

Als im Herbst 1928 meine Cousine Martha konfirmiert wurde, gab es ein riesiges Familienfest. Fabers fuhren die vier Kilometer bis zu unseren Verwandten mit dem Motorrad. Franz besaß ein solch stolzes Gefährt, weil es für ihn als Generalvertreter für Farben, Lacke und Tapeten unentbehrlich war. Er war in unserem gesamten Kreis Sternberg unterwegs.
Meine Großmutter und mich kutschierten Bekannte mit einem Pferdewagen zum Fest. Auf dem Rückweg waren Fabers natürlich vor uns zu Hause. Sie standen am Fenster und hielten nach uns Ausschau. Der Kutschwagen kam und kam nicht.
Plötzlich klopfte ein aufgeregter Nachbar an die Tür. ››Kommen Sie schnell!‹‹ rief er. ››Hinter der Postum ist ein Unfall passiert. Ihre Mutter liegt im Graben. Die Kleine sitzt noch auf dem Wagen!‹‹
Die Postum ist ein kleiner Fluß. Das Unglück hatte sich ereignet, als uns ein Motorrad zu überholen versuchte. Diese Gefährte erreichten höchstens dreißig Kilometer pro Stunde. Trotzdem scheuten die Pferde und gingen durch. Meine Großmutter war in hohem Bogen in den Chausseegraben geflogen und hatte sich dabei eine Gehirnerschütterung und einen doppelten Knöchelbruch zugezogen. Mir war nichts passiert. Der Kutscher war ebenfalls mit dem Schrecken davongekommen.
Antonie wurde sofort ins Johanniter-Krankenhaus nach Sonnenburg gebracht. Dort lag sie monatelang. Kinder hatten seinerzeit keinen Zutritt zu Krankenhäusern. Da ich erst vier Jahre alt war, durfte ich die Großmutter nicht sehen. Ich war unendlich traurig, daß meine geliebte Großmutter nicht bei mir war. Wenn Fabers Antonie besuchten, blieb ich bei Frau Meier, einer Freundin meiner Großmutter. Jedesmal, wenn ich bei ihr abgeliefert wurde, sträubte ich mich heftig.
Ich besaß eine Puppe mit einem wunderschönen Porzellankopf, die ich Gretchenpuppe nannte. Mit ihr hatten schon meine Tanten gespielt. Ich bin kein jähzorniger Typ. Aber einmal war ich so verzweifelt vor Sehnsucht nach meiner Großmutter-Mutter, daß ich die Puppe auf die Steine schleuderte. Der Porzellankopf zersprang.
Später bekam die Puppe einen Blechkopf als Ersatz. Das störte mich nicht. Nach fünf langen Monaten konnte ich endlich meine Großmutter-Mutter wiedersehen und in die Arme schließen.

Meine Großmutter war eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Ich sehe sie noch vor mir auf einem Stuhl sitzen, ein Schaf-Fell über den Knien: Ich hocke ihr zu Füßen auf einer Bank und höre ihr zu, während sie von früher erzählt. Wundervoll. Ich denke, daß ich als Zeitzeugin verpflichtet bin, das Gehörte weiterzugeben, aufzuschreiben, woher wir kamen, was wir erlebten und was uns geformt hat.
Gern schilderte meine Großmutter ihre Jugend. Nach ihrer Verlobung wurde sie für ein Vierteljahr in den Haushalt der künftigen Schwiegermutter beordert, um kochen zu lernen. Dies konnte sie zwar schon gut, aber nun sollte sie auch die Gerichte erlernen, die ihr späterer Mann gern aß. Erst nachdem Großmutter die Lieblingsspeisen meines Großvaters kannte, durfte sie ihn heiraten. Diese Rezepte waren wichtig.
Die Leute glaubten, daß dieser Brauch die Ehe erleichtern würde. Wenn die Frau auf den Tisch brachte, was der Mann mochte, wurden viele Konflikte von vornherein vermieden. Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Die Ehe sollte schließlich ein Leben lang halten!
Großmutter berichtete, daß sie als junge Frau Seife herstellen mußte. Dazu benutzte man Tierknochen. Zur Seife für die große Wäsche kam außerdem eine steinerne Substanz, damit die Kleidung wirklich rein wurde. Die Wäsche wurde geblaut. Dazu gab man blaues Pulver in ein kleines weißes Säckchen, das etwa fünf mal zehn Zentimeter groß war. Dieses Säckchen wurde ins Waschwasser gelegt, damit der Stoff weiß wurde.
Meine Großmutter lernte auch, Stores so zu waschen, daß die Gardinen keinen bräunlichen Farbton bekamen. Dafür muß man in das letzte Spülwasser ein wenig schwarzen Tee geben.
Ihre Geschichten schrieb Großmutter alle auf. Leider besitze ich diese Bücher nicht mehr.

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Mittwoch, 21. Februar 2007
Folge 2: Meine Wahlheimat Limmritz
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

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Obwohl ich in Küstrin geboren wurde, wuchs ich in Limmritz auf, einem Ort im Warthebruch. Im Alter von sieben Monaten kam ich im August 1924 zu meinen geliebten Großeltern, Karl und Antonie Schmidt. Ich war gerade ein Jahr alt, als Großvater Karl 1925 starb. Von nun an schenkte Großmutter Antonie all ihre Liebe mir.
Großmutter lebte in einem Haus mit Franz und Anna Faber, der jüngeren Schwester meiner Mutter. Die beiden liebten Kinder über alles, aber sie konnten keine eigenen bekommen. Gott hatte etwas anderes mit ihnen vor! Wuchs nicht die kleine Lotte im selben Haus auf? War es nicht die Bestimmung der Eheleute sich meiner anzunehmen?
Tante Anna hängte ihr Herz an das schüchterne, blonde Mädchen. Sie liebte es bald ebenso wie ihren Mann. Ich liebte Anna und Franz ebenfalls so innig, daß ich sie Vater und Mutter nannte. Für mich begann ein reiches, frohes Leben. Die Einheit der Herzen bestimmte den Alltag in der Bruchstraße 18. Großmutter, Anna und Franz wohnten zusammen wie eine Großfamilie. Anfangs führte Großmutter ihren Haushalt noch allein. Das änderte sich schließlich - aber davon erzähle ich später.
Das Dorf Limmritz im Warthebruch wurde zu meiner Wahlheimat, wie ich es gerne nenne. Lemierzyce, wie es jetzt heißt, liegt in der Neumark und gehört heute zu Polen. Die Warthe ist ein Fluß, der nördlich von Katowice entspringt und bei Küstrin in die Oder mündet.
An Limmritz habe ich in all den Jahren gern zurückgedacht. Noch heute besuche ich oft meine alte Heimat. Ich hänge so an diesem Ort, an dem ich Wärme und Geborgenheit fand. Auch mein geliebter Kurt hatte mit seinen Eltern dort gelebt.

Gelegentlich organisiere ich Fahrten und Führungen für Menschen, die auf das unbekannte Land jenseits der Oder neugierig sind. Da ich gewissermaßen Fachfrau für das Warthebruch bin, sei mir an dieser Stelle ein historisch-geographischer Rückblick erlaubt.
Das Warthebruch war schon in der mittleren Steinzeit besiedelt. In den letzten zwei Jahrtausenden vor Christus lebten dort Menschen, die verschiedenen Kulturen angehörten. In der Zeit von 600 bis 100 vor Christus gewannen die Burgunder an Bedeutung, ein ostgermanischer Stamm, der, aus dem westlichen Schweden kommend, das Gebiet zwischen Oder und unterer Weichsel besiedelte. Unter dem Druck der aus Südosteuropa vordringenden Hunnen zogen die Burgunder im vierten und fünften Jahrhundert, in der Zeit der großen Völkerwanderung, langsam weiter in südwestliche Richtung. Bis schließlich slawische Stämme einwanderten, blieb das Warthebruch etwa zweihundert Jahre lang fast unbewohnt.
Mitte des zehnten Jahrhunderts begann die Christianisierung Polens, ausgehend von Klöstern auf dem Gebiet des heutigen Brandenburg und in der Nähe von Magdeburg. Gleichzeitig kamen deutsche Siedler in das Land jenseits der Oder.
Der polnische Herzog Mieszko I. unterwarf sich 963 der Oberhoheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dessen Kaiser Otto I. Im Jahr 966 ließ sich Mieszko I. taufen und trat so offiziell zum christlichen Glauben über.
Die folgende Zeit war von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Pommern und Polen geprägt. Dies führte dazu, daß der Kirche, vor allem den Templern und dem Zisterzienserorden, Ländereien geschenkt wurden. Die Templer, ein geistlicher Ritterorden, erhielten Gebiete rund um Küstrin, Soldin und Königsberg in der Neumark.
Als die Mongolen im 13. Jahrhundert in Osteuropa einfielen, wurden sowohl Polen als auch Pommern geschwächt. Daher konnte das brandenburgische Geschlecht der Askanier um 1250 die Neumark übernehmen. Brandenburgische Städte und Befestigungsanlagen wurden in dieser Region gebaut, in der schon seit längerem deutsche Bauern und Adlige lebten.
Die Zisterzienser gründeten im 13. Jahrhundert Klöster in der Neumark. Auch die Templer gelangten zu Reichtum und Macht. Im Jahr 1312 wurde der Ritterorden allerdings verboten und aufgelöst, weil er sich von den christlichen Werten abgekehrt hatte. Den größten Teil des Besitzes erhielt der Johanniterorden. Dieser war in Jerusalem gegründet und im Jahr 1113 vom Papst anerkannt worden. Ab 1427 richtete der Orden seinen Sitz für den Verwaltungsbezirk Brandenburg in Sonnenburg, einem Ort bei Küstrin, ein. Die Johanniter widmeten sich besonders der Kultivierung der Landschaft im Warthebruch. Unser Dorf gehörte auch zu den Ländereien der Johanniter.
Limmritz liegt sieben Kilometer östlich von Sonnenburg, inmitten einer idyllischen Landschaft. Die Straße, die von Küstrin über Sonnenburg und Kriescht, weiter nach Osten in Richtung Schwerin führt, teilt das Dorf in zwei Hälften. Der südliche Teil lehnt sich an die Ausläufer des Sternberger Höhenrückens. Der nördliche Teil fällt sanft ab zum Flüßchen Postum und bildet den Eingang in das Warthebruch. Weite Wiesen und wunderschöne, von Bäumen gesäumte Straßen ziehen sich von Limmritz über Woxfelde bis hin zur Warthe-Fähre bei Schützensorge, etwa zwölf Kilometer weiter. Die Dörflein in dieser Gegend tragen fremdländisch klingende Namen: Saratoga, Hampshire, Ceylon, Jamaika.
Der Wanderer, der sich aus nördlicher Richtung Limmritz nähert, erblickt schon von weitem den Turm unserer stattlichen Dorfkirche. Hoch über den Häusern weist sie dem Neuankömmling als „Finger Gottes” den Weg durch die stille Landschaft. Moritz von Nassau ließ die Kirche im 17. Jahrhundert bauen. Später brannte sie ab und wurde als Backsteinkirche neu errichtet. Vom Kirchdach leuchtete einst weithin sichtbar ein großes Johanniterkreuz - ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund.

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Freitag, 9. Februar 2007
Folge 1: Alles fügt sich
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

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Der 2. Februar 1924 war ein bitterkalter Tag. Durch Küstrin fegte der Schnee. Die Nacht hüllte alles Leid dieser Zeit in ihr sanftes Dunkel. Nur am Markt, in der Nähe des markgräflichen Schlosses, brannte kurz nach Mitternacht noch ein einsames Licht. Im Haus Nummer 196 kam ich, Lotte Margarete Hänsch, später adoptierte Faber und jetzt verwitwete Guse, als Tochter von Hedwig und Otto Hänsch zur Welt. Ich war das erste Kind meiner Eltern. Meine jüngere Schwester Gerda wurde zwei Jahre später, am 6. April 1926, geboren.
Mein Verhältnis zu meiner Familie war nicht einfach. Es scheint, als wollte der liebe Gott mich auf die Probe stellen. Er gab mir Eltern, deren Verbindung nicht auf herzliche Zuneigung begründet war. Deshalb konnte ich sie auch nicht innig lieben.
Die Bürde, das ungeliebte Kind eines ewig streitenden Ehepaares zu sein, prägte mich von Kindheit an. Diese Last überschattete mein Leben lange Jahre. Ich war allein, ging meinen Pflichten nach und dachte nicht daran, daß es einen Mann geben könnte, der mich liebt. Ich hatte wenig Selbstwertgefühl, ja ich zweifelte daran, daß auch mir privates Glück zustehen könnte.
Erst als ich älter wurde, erfüllte sich meine lange verloren geglaubte Jugendliebe. Diese Liebe hatte schon in Kindertagen begonnen. Doch erst 1993 heiratete ich meinen Jugendfreund Kurt Guse. Bis zu seinem Tod lebten wir sieben unvergeßliche Jahre zusammen.
Sonst erlebte ich kaum etwas Außergewöhnliches. Die Beziehung zu Kurt war es, die aus meinem Leben etwas Besonderes gemacht hat. Durch ihn fand ich noch im Alter mein Glück.
Alles fügt sich und erfüllt sich, mußt es nur erwarten können, und dem Werden deines Glückes Jahr und Felder reichlich düngen. Ich denke, daß dieser Satz des Dichters Christian Morgenstern gut zu meinem Leben paßt. Durch Kurt wurde mir noch mit knapp siebzig Jahren eine Familie geschenkt. Ich bin Großmutter, ohne jemals ein Kind bekommen zu haben.
Meine Enkel baten Kurt und mich oft: „Ihr seid Zeitzeugen - erzählt uns davon!” Ihrem Wunsch möchte ich nachkommen und von meinem Leben berichten. Meine Geschichte ist mit Kurts Geschichte eng verbunden, da wir dieselbe Heimat haben. Ich erzähle sie auch um meiner selbst willen. Ich möchte Rückschau halten, um am Ende meiner Tage sagen zu dürfen: Ich war etwas zum Lobe Deiner Herrlichkeit, o Gott!

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