Donnerstag, 22. März 2007
Folge 4: Meine Großmutter-Mutter Antonie
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

Mein Buch bei Rohnstock Biografien
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Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern in der historischen Altstadt von Küstrin an der Oder. Sie hatten Am Markt 196 eine Wohnung mit mehreren Zimmern gemietet.
Obwohl sie nicht weit entfernt wohnten, hatte Hedwig kaum Kontakt zu ihrer Schwiegermutter. Meine Großmutter väterlicherseits hielt sich vor allem bei ihrer Tochter Ida auf, die mit ihrem Mann ein Bauernhaus im Warthebruch besaß. Idas Ehe blieb kinderlos. Diese Angehörigen meines Vaters lernte ich nicht näher kennen. Ich sah sie in meinem Leben nur ein einziges Mal.
Otto war ein guter Vater, ein liebenswürdiger, sanftmütiger Mensch. Er arbeitete als Bäcker- und Konditormeister. Da meine Mutter sich nicht damit arrangieren konnte, gab er sein Geschäft auf. Er fand eine Anstellung in einer großen Bäckerei. Dort wurde ein Bäcker- und Konditormeister gesucht, der sowohl für die Bevölkerung als auch fürs Militär backte. In dieser Bäckerei war mein Vater bis zum Kriegsende tätig.
Meine Geburt und meine Anwesenheit überforderten meine Mutter, denn sie liebte ihren Mann nicht. Sie konnte und wollte sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden, nur Ehefrau und Mutter zu sein. Deshalb war ihre Ehe von Anfang an von Zerwürfnissen geprägt.
Als ich zur Welt kam, war meine Mutter 34 Jahre alt, nach damaligem Verständnis viel zu alt für eine Erstgeburt. Ich war ein spilleriges Kind, und sie konnte mich nicht stillen. Erst nach einigen Jahren, als ich schon etwas älter war, fügte sich meine Mutter besser in ihre Rolle hinein. Sie hatte sich endlich mit ihrer Ehe abgefunden. Meine jüngere Schwester Gerda wurde etwas liebevoller erzogen als ich.
Im Frühling 1924 wurde ich getauft. Tante Anna war meine Patin. Ob sie wohl ahnte, welche Aufgabe ihr noch bevorstand?
Als meine Eltern mich aus dem Haus gaben, war ich gerade sieben Monate alt. Sie glaubten, mich nicht weiter bei sich behalten zu können, da sie sich in einer schwierigen finanziellen Situation befanden. Überall in Deutschland herrschte in diesen Jahren Verzweiflung und Elend. Viele Menschen litten Not. Die Folgen der Inflation und der Reparationskosten, die nach dem Krieg zu zahlen waren, machten sich überall bemerkbar. Im Juni 1923 kostete ein Pfund Margarine zwischen 7600 und 9600 Mark, ein Pfund Kartoffeln zwischen 112 und 130 Mark, ein Pfund Zucker 1400 bis 1500 Mark und ein Ei 800 bis 810 Mark.

Im Sommer 1924 kam ich also zu meinen Großeltern mütterlicherseits nach Limmritz. Ich bin überzeugt davon, daß meine Seele von der düsteren Stimmung in Küstrin bereits geprägt war. Großmutter Antonie und Großvater Karl pflegten mich rührend.
Obwohl Karl den Bauernhof nach dem Tod seines Sohnes verkauft hatte, wohnten die Großeltern auf dem Grundstück und hielten eine Kuh im Stall. Auf dem Lande war das so üblich. Man besaß ein paar Hühner und fütterte ein Schwein oder eine Kuh.
Meine Eltern kamen gelegentlich nach Limmritz zu Besuch. Trotzdem konnte ich zu ihnen keine Eltern-Kind-Beziehung aufbauen. Ihnen erging es wohl ähnlich. Da ich mich den Großeltern und Anna und Franz Faber zugehörig fühlte, störte mich die Kälte und Zwietracht zwischen meinen Eltern kaum.
Auf dem Hof in Limmritz wohnten wir alle zusammen: Großvater Karl, Großmutter Antonie, Anna, Franz und ich. An Großvater erinnere ich mich nicht, ich war noch zu klein, als er starb.

Mein Urgroßvater Gustav Thieme besaß einen Bauernhof in Freiberg/Warthebruch und ein Kolonialwarengeschäft in Woxfelde. Mit siebzehn Jahren heiratete Gustav seine Karoline. Mit ihr hatte er dreizehn Kinder. Nur sechs überlebten ihre Kindheit. An ihre Geburts- und Sterbedaten kann ich mich nicht erinnern. Sie waren in unsere Familienbibel eingetragen, die in den letzten Kriegstagen verlorenging. Das war ein großer Verlust für uns, denn wir liebten diese Bibel alle sehr.
Urgroßvater Gustav war ein Mann mit vielfältigen Talenten. Außer dem Geschäft und dem Bauernhof widmete er sich noch seiner Geige. Darauf spielte er besonders gern. Er besaß eine musische Ader und dichtete gelegentlich.
Großmutter Antonie, seine Tochter, war ihm in vielem ähnlich. Sie dichtete zwar nicht selbst, aber sie schrieb viele Gedichte auf. Von ihr habe ich wohl die Freude an Gedichten und am Schreiben geerbt. Antonie war eine wunderbare Frau.
Meine Großmutter war körperlich robust. Sie brachte sechs Kinder zur Welt, zwei davon starben. Obwohl sie äußerlich so stark war, besaß sie ein zartes Gemüt.
Als ich sehr klein war, blieb ich über Nacht in Antonies Schlafzimmer. Dort stand mein Bett. Als einer der Giebel ausgebaut wurde, bekam ich mein eigenes Zimmer.
Großmutter Antonie nannte ich Mutter, weil sie sich tatsächlich wie eine Mutter um mich kümmerte. Fabers waren für mich Tante Anna und Onkel ››Fanz‹‹. Als kleines Mädchen konnte ich das ››r‹‹ nicht aussprechen. Den guten Onkel ››Fanz‹‹ liebte ich so sehr, daß ich ihn sogar heiraten wollte. Da war ich vier oder fünf Jahre alt.

Als im Herbst 1928 meine Cousine Martha konfirmiert wurde, gab es ein riesiges Familienfest. Fabers fuhren die vier Kilometer bis zu unseren Verwandten mit dem Motorrad. Franz besaß ein solch stolzes Gefährt, weil es für ihn als Generalvertreter für Farben, Lacke und Tapeten unentbehrlich war. Er war in unserem gesamten Kreis Sternberg unterwegs.
Meine Großmutter und mich kutschierten Bekannte mit einem Pferdewagen zum Fest. Auf dem Rückweg waren Fabers natürlich vor uns zu Hause. Sie standen am Fenster und hielten nach uns Ausschau. Der Kutschwagen kam und kam nicht.
Plötzlich klopfte ein aufgeregter Nachbar an die Tür. ››Kommen Sie schnell!‹‹ rief er. ››Hinter der Postum ist ein Unfall passiert. Ihre Mutter liegt im Graben. Die Kleine sitzt noch auf dem Wagen!‹‹
Die Postum ist ein kleiner Fluß. Das Unglück hatte sich ereignet, als uns ein Motorrad zu überholen versuchte. Diese Gefährte erreichten höchstens dreißig Kilometer pro Stunde. Trotzdem scheuten die Pferde und gingen durch. Meine Großmutter war in hohem Bogen in den Chausseegraben geflogen und hatte sich dabei eine Gehirnerschütterung und einen doppelten Knöchelbruch zugezogen. Mir war nichts passiert. Der Kutscher war ebenfalls mit dem Schrecken davongekommen.
Antonie wurde sofort ins Johanniter-Krankenhaus nach Sonnenburg gebracht. Dort lag sie monatelang. Kinder hatten seinerzeit keinen Zutritt zu Krankenhäusern. Da ich erst vier Jahre alt war, durfte ich die Großmutter nicht sehen. Ich war unendlich traurig, daß meine geliebte Großmutter nicht bei mir war. Wenn Fabers Antonie besuchten, blieb ich bei Frau Meier, einer Freundin meiner Großmutter. Jedesmal, wenn ich bei ihr abgeliefert wurde, sträubte ich mich heftig.
Ich besaß eine Puppe mit einem wunderschönen Porzellankopf, die ich Gretchenpuppe nannte. Mit ihr hatten schon meine Tanten gespielt. Ich bin kein jähzorniger Typ. Aber einmal war ich so verzweifelt vor Sehnsucht nach meiner Großmutter-Mutter, daß ich die Puppe auf die Steine schleuderte. Der Porzellankopf zersprang.
Später bekam die Puppe einen Blechkopf als Ersatz. Das störte mich nicht. Nach fünf langen Monaten konnte ich endlich meine Großmutter-Mutter wiedersehen und in die Arme schließen.

Meine Großmutter war eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Ich sehe sie noch vor mir auf einem Stuhl sitzen, ein Schaf-Fell über den Knien: Ich hocke ihr zu Füßen auf einer Bank und höre ihr zu, während sie von früher erzählt. Wundervoll. Ich denke, daß ich als Zeitzeugin verpflichtet bin, das Gehörte weiterzugeben, aufzuschreiben, woher wir kamen, was wir erlebten und was uns geformt hat.
Gern schilderte meine Großmutter ihre Jugend. Nach ihrer Verlobung wurde sie für ein Vierteljahr in den Haushalt der künftigen Schwiegermutter beordert, um kochen zu lernen. Dies konnte sie zwar schon gut, aber nun sollte sie auch die Gerichte erlernen, die ihr späterer Mann gern aß. Erst nachdem Großmutter die Lieblingsspeisen meines Großvaters kannte, durfte sie ihn heiraten. Diese Rezepte waren wichtig.
Die Leute glaubten, daß dieser Brauch die Ehe erleichtern würde. Wenn die Frau auf den Tisch brachte, was der Mann mochte, wurden viele Konflikte von vornherein vermieden. Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Die Ehe sollte schließlich ein Leben lang halten!
Großmutter berichtete, daß sie als junge Frau Seife herstellen mußte. Dazu benutzte man Tierknochen. Zur Seife für die große Wäsche kam außerdem eine steinerne Substanz, damit die Kleidung wirklich rein wurde. Die Wäsche wurde geblaut. Dazu gab man blaues Pulver in ein kleines weißes Säckchen, das etwa fünf mal zehn Zentimeter groß war. Dieses Säckchen wurde ins Waschwasser gelegt, damit der Stoff weiß wurde.
Meine Großmutter lernte auch, Stores so zu waschen, daß die Gardinen keinen bräunlichen Farbton bekamen. Dafür muß man in das letzte Spülwasser ein wenig schwarzen Tee geben.
Ihre Geschichten schrieb Großmutter alle auf. Leider besitze ich diese Bücher nicht mehr.

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Donnerstag, 8. März 2007
Folge 3: Meine Vorfahren
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Meine Vorfahren mütterlicherseits stammten aus dem Hannoverschen. In den Jahren 1774/76 waren sie ausgezogen, um sich in Limmritz anzusiedeln.
Früher hatte es in der Umgebung des seit dem 15. Jahrhundert bestehenden Dorfes nur ein riesiges Sumpfgebiet gegeben. Nach dem Siebenjährigen Krieg war das Warthebruch jedoch unter der Leitung von Franz Balthasar Schönberg von Brenkenhoff trockengelegt und urbar gemacht worden. Friedrich II. hatte den Auftrag dafür erteilt und zusätzlich verfügt, daß alle Siedler, die sich in dem Gebiet niederlassen, Fachwerkhäuser zu bauen hätten.
Auch unsere Familie lebte bis 1895 in solch einem Fachwerkhaus. Meinem Großvater mißfiel diese Eintönigkeit irgendwann. ››Nun muß was Neues her!‹‹ soll er gesagt haben. ››Fachwerk, das über hundert Jahre alt ist, kann man ausbessern. Aber ist es nicht besser, Stein auf Stein zu setzen?‹‹
Großvater baute, wie es sich für einen guten Bauern ziemte: erst Ställe fürs Vieh, dann ein Wohnhaus für die Familie. 1893/94 waren die Behausungen für die Tiere fertig. Es gab eine Scheune, Schweinestall, Schafstall, Kuhstall, Pferdestall - alles, was zu einer Bauernwirtschaft gehörte. 1895 stand endlich auch das neue Wohnhaus.

Meine Großmutter Antonie, eine geborene Thieme, stammte aus dem Ort Freiberg im Warthebruch. Karl Schmidt, mein Großvater, war 1859 in Limmritz geboren worden und zwei Jahre älter als sie. Karl und Antonie hatten vier Kinder: Bertha (geboren am 7. August 1887), meine Mutter Hedwig (5. September 1889), Karl (20. Februar 1893) und meine geliebte Tante Anna (1. April 1895). Die Geschwister Karl und Anna verstanden sich besonders gut.
Zwei weitere Säuglinge starben wenige Monate nach der Geburt. Den Kindern von Karl und Antonie sollte eine besondere Lebensgeschichte beschieden sein. Zwei endeten tragisch. Der älteste Sohn Karl, Hoferbe und Stolz meines Großvaters, fiel im Februar 1915 in den Karpaten. Mein Großvater war darüber so erschüttert, daß er das gesamte Land, das sich seit Generationen in unserem Besitz befunden hatte, 1916/17 an einen anderen Bauern verkaufte. Das Haus in der Bruchstraße 18 blieb weiter in den Händen der Familie. Mein Großvater lebte von den Kapitalerträgen des Verkaufs, bis das Geld während der Inflation an Wert verlor. Er war ein Rentier - so nannte man das damals.

Der Lebensweg meiner Tante Bertha begann zunächst vielversprechend. Sie heiratete 1913 als erste der drei Töchter. Mit ihrem Mann Franz Wolf zog sie nach Woxfelde, wo sie zwei Kinder bekamen. Ihr Glück fand ein jähes Ende: Franz starb 1936. Berthas Sohn, mein Vetter Karl, wurde 1939 Soldat. Mit einer Verwundung kam er kurz vor Kriegsende in ein Lazarett in der Stadt Soldin, östlich der Oder. Als die Russen dort einmarschierten, wurde Karl zusammen mit zwanzig weiteren Kameraden erschossen.
Meine Cousine Martha, geboren 1914, verlor ihren Verlobten auf dem Schlachtfeld. Martha betreute als Hausdame eine alte Pastorenwitwe in Stettin. Als dort die ersten Bomben fielen, wollte der Sohn der Witwe seine Mutter und Martha ins Rheinland bringen, wo Verwandte lebten. Er holte sie zunächst nach Posen, das heute Poznan heißt. Auf dem Weg nach Westen machte er in Limmritz Station bei Anna Faber, der Tante von Martha.
Bei diesem Aufenthalt entschloß sich Martha, bei ihrer Mutter Bertha in Woxfelde, einem Ort vier Kilometer von Limmritz, zu bleiben. Die beiden Frauen lebten in dem Haus, in dem sich auch das Kolonialwarengeschäft meines Urgroßvaters Gustav Thieme befand. Bertha war die Erbin dieses Geschäfts.
Als der Ort von den Russen heimgesucht wurde, fanden Martha und Bertha ein schreckliches Ende. Zwölf Frauen aus Woxfelde - darunter meine Tante und meine Cousine - wurden von den Soldaten so grausam geschändet, daß sie danach nicht mehr leben wollten. Sie erhängten sich. Ein Nachbar und ein alter Mann, dessen Namen ich nicht weiß, wickelten die toten Frauen nacheinander in Teppiche, die sie in den Häusern gefunden hatten. Särge gab es nicht. Auf dem nahen Friedhof fanden sie ihre letzte Ruhestätte. Später verlor der alte Mann kein Wort darüber, wie die Leichen ausgesehen hatten. Die Frauen müssen so gräßlich zugerichtet worden sein, daß er nicht darüber reden konnte.
Auf diese Weise wurde die gesamte Familie meiner Cousine Martha ausgelöscht.

Hedwig, meine leibliche Mutter, besaß eine besondere Stellung in der Familie. Zu ihren Geschwistern hatte sie schon als Kind ein unterkühltes Verhältnis. Mit ihrer Mutter verstand sie sich dagegen ausgezeichnet. Die Beziehung zu ihrem Vater war eher distanziert. Hedwig litt wohl darunter, seine hohen Ansprüche, die er als arbeitsamer Mann an seine Kinder stellte, nicht erfüllen zu können.
Zwar blieb Hedwig von dramatischen Schicksalsschlägen verschont, doch ihr Lebensweg war mit einem Makel behaftet. Meine Mutter war bereits 34 Jahre alt, als endlich ein Mann um ihre Hand anhielt. Zu dieser Zeit, 1923, lebte sie noch im Haus ihrer Eltern. Einen Beruf hatte sie nicht erlernen dürfen. Mädchen wurden zum Heiraten erzogen. Als unverheiratete Frau so lange bei Vater und Mutter zu bleiben, galt als unehrenhaft. Das kam einer Schande gleich.
Endlich entschied sich mein Vater für Hedwig. Otto Hänsch stammte aus St. Johannes, einem Dorf in der Nähe von Limmritz. Er wurde am 8. Juli 1888 geboren. Da mein Großvater väterlicherseits früh starb, wuchs Otto mit einer Schwester bei der Mutter auf.
Als Otto schließlich Hedwig um ihre Hand bat, war das kein Liebesbeweis. Er hätte lieber Anna geheiratet, die jüngere Schwester. Sie hatte sein Werben nicht erhört. Otto brauchte aber eine standesgemäße Frau. Also fügte er sich in sein Schicksal und führte Hedwig zum Traualtar. Die beiden kannten sich bereits seit langem.
Seinerzeit besaß jeder Handwerksmeister Land. Da der Besitz der Familie Hänsch an den meiner Großeltern Schmidt grenzte, standen sie in engem Kontakt. Sicher drängte Großvater Karl den Otto zu dieser Heirat, denn er wollte seine Tochter endlich unter der Haube wissen. Der innige Wunsch meiner Mutter war es jedenfalls nicht, Otto zu heiraten. Sie gab meinem Vater die Hand, ohne ihm auch ihr Herz zu schenken. Die Ehe war von Anfang an unglücklich, und sie sollte es bleiben, bis mein Vater starb.

Nur meiner Tante Anna war ein glückliches Leben beschieden. Sie war die fröhlichste und temperamentvollste der drei Schwestern. Schon früh am Morgen sang sie. Sie hatte auch schauspielerisches Talent.
Daß sie so glücklich war, lag vor allem daran, daß sie eine gute Ehe führte, in der Mann und Frau einander achteten. Anna heiratete ihren älteren Cousin. Franz Faber hatte schon lange ein Auge auf sie geworfen. Er stammte aus Sonnenburg, wo er am 17. November 1885 zur Welt gekommen war.

Sein Vater (1852 bis 1898) war Schneidermeister, die Mutter Berta (1852 bis 1901) die Schwester meiner Großmutter Antonie. Berta und Antonie waren beide geborene Thieme.
Franz Faber hatte ein besonderes Steckenpferd. Nach der Mode der Zeit gestaltete er Stilleben, die er Freunden und Verwandten schenkte. Das Malen machte er auch zu seinem Beruf. Allerdings war er kein Kunstmaler, sondern Malermeister.
Nach seiner Lehrzeit lebte er drei Jahre in dem Schweizer Ort Thun und in Berlin. 1910, nachdem er endlich seinen Meisterbrief erhalten hatte, ließ er sich in Limmritz nieder.
Franz mietete das Ausgedinge im Haus meiner Großmutter Antonie. So nannte man die kleine Wohnung, die sich in jedem Bauernhaus befand. Sie hatte einen eigenen Eingang und eine Küche - unabhängig von der großen Wohnung der Bauersleute. Wenn der Bauer den Hof an seinen Erben abgab, zog er mit seiner Frau in das Ausgedinge. Der Sohn mußte fortan für die Eltern sorgen. Sie erhielten Naturalien und das Wohnrecht bis ans Ende ihrer Tage. Auf diese Weise war geregelt, daß mehrere Generationen zusammen unter einem Dach leben konnten: die junge Familie mit ihren heranwachsenden Söhnen und Töchtern und das alte Bauernpaar, das den Kindern meist hilfreich zur Seite stand. Wenn die greise Bäuerin nicht mehr den Haushalt führen konnte oder wenn sie verstarb, kochte die junge Frau für die Alten.

Franz Faber lebte nun im Ausgedinge. Seine Beziehung zu Anna wurde immer intensiver. Als 1914 der Krieg kam, wurde Franz eingezogen. Anna wartete geduldig auf ihn.
Die Werbungen anderer Männer schlug sie aus. ››Ich bin dem Franz versprochen, und das will ich auch einlösen!‹‹ soll sie jedem gesagt haben. Auch Otto Hänsch, meinem Vater.
1917, kurz vor Kriegsende, fragte der Verwalter der Limmritzer Molkerei meinen Großvater: ››Gibst du mir mal deine Anna-Tochter? Ich suche jemanden zum Rechnen und Schreiben!‹‹
››Meine Tochter braucht nicht zu arbeiten‹‹, erwiderte mein Großvater. ››Ich hab genug Geld!‹‹
Anna und der Verwalter setzten sich durch - jeder auf seine Weise. Meine Tante wurde für ein knappes Jahr berufstätig.
1918 kehrte Franz Faber aus dem Krieg zurück. Er wollte endlich seine Beziehung zu Anna legalisieren. Bei Großvater Karl hielt er um ihre Hand an. Mein Großvater zögerte lange, weil Franz und Anna Cousin und Cousine waren. Auch trug er schwer am Verlust seines Sohnes. 1920 willigte Großvater endlich ein. Allerdings stellte er eine Bedingung: ››Anna darf bei der Hochzeit kein weißes Kleid tragen! Schließlich sind wir in Trauer.‹‹
Anna bekam trotzdem ihren Willen. Sie trug ein weißes Brautkleid, wie es sich für eine Liebesheirat gehört.

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Mittwoch, 21. Februar 2007
Folge 2: Meine Wahlheimat Limmritz
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

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Obwohl ich in Küstrin geboren wurde, wuchs ich in Limmritz auf, einem Ort im Warthebruch. Im Alter von sieben Monaten kam ich im August 1924 zu meinen geliebten Großeltern, Karl und Antonie Schmidt. Ich war gerade ein Jahr alt, als Großvater Karl 1925 starb. Von nun an schenkte Großmutter Antonie all ihre Liebe mir.
Großmutter lebte in einem Haus mit Franz und Anna Faber, der jüngeren Schwester meiner Mutter. Die beiden liebten Kinder über alles, aber sie konnten keine eigenen bekommen. Gott hatte etwas anderes mit ihnen vor! Wuchs nicht die kleine Lotte im selben Haus auf? War es nicht die Bestimmung der Eheleute sich meiner anzunehmen?
Tante Anna hängte ihr Herz an das schüchterne, blonde Mädchen. Sie liebte es bald ebenso wie ihren Mann. Ich liebte Anna und Franz ebenfalls so innig, daß ich sie Vater und Mutter nannte. Für mich begann ein reiches, frohes Leben. Die Einheit der Herzen bestimmte den Alltag in der Bruchstraße 18. Großmutter, Anna und Franz wohnten zusammen wie eine Großfamilie. Anfangs führte Großmutter ihren Haushalt noch allein. Das änderte sich schließlich - aber davon erzähle ich später.
Das Dorf Limmritz im Warthebruch wurde zu meiner Wahlheimat, wie ich es gerne nenne. Lemierzyce, wie es jetzt heißt, liegt in der Neumark und gehört heute zu Polen. Die Warthe ist ein Fluß, der nördlich von Katowice entspringt und bei Küstrin in die Oder mündet.
An Limmritz habe ich in all den Jahren gern zurückgedacht. Noch heute besuche ich oft meine alte Heimat. Ich hänge so an diesem Ort, an dem ich Wärme und Geborgenheit fand. Auch mein geliebter Kurt hatte mit seinen Eltern dort gelebt.

Gelegentlich organisiere ich Fahrten und Führungen für Menschen, die auf das unbekannte Land jenseits der Oder neugierig sind. Da ich gewissermaßen Fachfrau für das Warthebruch bin, sei mir an dieser Stelle ein historisch-geographischer Rückblick erlaubt.
Das Warthebruch war schon in der mittleren Steinzeit besiedelt. In den letzten zwei Jahrtausenden vor Christus lebten dort Menschen, die verschiedenen Kulturen angehörten. In der Zeit von 600 bis 100 vor Christus gewannen die Burgunder an Bedeutung, ein ostgermanischer Stamm, der, aus dem westlichen Schweden kommend, das Gebiet zwischen Oder und unterer Weichsel besiedelte. Unter dem Druck der aus Südosteuropa vordringenden Hunnen zogen die Burgunder im vierten und fünften Jahrhundert, in der Zeit der großen Völkerwanderung, langsam weiter in südwestliche Richtung. Bis schließlich slawische Stämme einwanderten, blieb das Warthebruch etwa zweihundert Jahre lang fast unbewohnt.
Mitte des zehnten Jahrhunderts begann die Christianisierung Polens, ausgehend von Klöstern auf dem Gebiet des heutigen Brandenburg und in der Nähe von Magdeburg. Gleichzeitig kamen deutsche Siedler in das Land jenseits der Oder.
Der polnische Herzog Mieszko I. unterwarf sich 963 der Oberhoheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dessen Kaiser Otto I. Im Jahr 966 ließ sich Mieszko I. taufen und trat so offiziell zum christlichen Glauben über.
Die folgende Zeit war von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Pommern und Polen geprägt. Dies führte dazu, daß der Kirche, vor allem den Templern und dem Zisterzienserorden, Ländereien geschenkt wurden. Die Templer, ein geistlicher Ritterorden, erhielten Gebiete rund um Küstrin, Soldin und Königsberg in der Neumark.
Als die Mongolen im 13. Jahrhundert in Osteuropa einfielen, wurden sowohl Polen als auch Pommern geschwächt. Daher konnte das brandenburgische Geschlecht der Askanier um 1250 die Neumark übernehmen. Brandenburgische Städte und Befestigungsanlagen wurden in dieser Region gebaut, in der schon seit längerem deutsche Bauern und Adlige lebten.
Die Zisterzienser gründeten im 13. Jahrhundert Klöster in der Neumark. Auch die Templer gelangten zu Reichtum und Macht. Im Jahr 1312 wurde der Ritterorden allerdings verboten und aufgelöst, weil er sich von den christlichen Werten abgekehrt hatte. Den größten Teil des Besitzes erhielt der Johanniterorden. Dieser war in Jerusalem gegründet und im Jahr 1113 vom Papst anerkannt worden. Ab 1427 richtete der Orden seinen Sitz für den Verwaltungsbezirk Brandenburg in Sonnenburg, einem Ort bei Küstrin, ein. Die Johanniter widmeten sich besonders der Kultivierung der Landschaft im Warthebruch. Unser Dorf gehörte auch zu den Ländereien der Johanniter.
Limmritz liegt sieben Kilometer östlich von Sonnenburg, inmitten einer idyllischen Landschaft. Die Straße, die von Küstrin über Sonnenburg und Kriescht, weiter nach Osten in Richtung Schwerin führt, teilt das Dorf in zwei Hälften. Der südliche Teil lehnt sich an die Ausläufer des Sternberger Höhenrückens. Der nördliche Teil fällt sanft ab zum Flüßchen Postum und bildet den Eingang in das Warthebruch. Weite Wiesen und wunderschöne, von Bäumen gesäumte Straßen ziehen sich von Limmritz über Woxfelde bis hin zur Warthe-Fähre bei Schützensorge, etwa zwölf Kilometer weiter. Die Dörflein in dieser Gegend tragen fremdländisch klingende Namen: Saratoga, Hampshire, Ceylon, Jamaika.
Der Wanderer, der sich aus nördlicher Richtung Limmritz nähert, erblickt schon von weitem den Turm unserer stattlichen Dorfkirche. Hoch über den Häusern weist sie dem Neuankömmling als „Finger Gottes” den Weg durch die stille Landschaft. Moritz von Nassau ließ die Kirche im 17. Jahrhundert bauen. Später brannte sie ab und wurde als Backsteinkirche neu errichtet. Vom Kirchdach leuchtete einst weithin sichtbar ein großes Johanniterkreuz - ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund.

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