Mittwoch, 23. Mai 2007
Folge 8: Tante Mia, die Weltdame / Die Scheune
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

Mein Buch bei Rohnstock Biografien
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Tante Mia war die ältere Schwester von Franz. Sie wurde am 6. September 1883 in Sonnenburg geboren, einem Ort, der von Limmritz sieben Kilometer entfernt war. In der Familie galt sie als etwas besonderes.
Wie auch Franz bemühte sich Mia erfolgreich darum, in Sonnenburg die sogenannte Bürgerschule besuchen zu können, die mit der Mittelschule vergleichbar war. Sie war sprachlich interessiert und konnte gut Englisch.
Da ihre Eltern kurz nacheinander starben, bevor sie volljährig wurden, waren Mia und Franz frühzeitig auf sich allein gestellt. Ein Onkel übernahm die Vormundschaft für die Geschwister.
1901 zog Mia nach Berlin. Dort wohnte sie bei einer alten, verwitweten Tante, die im Bezirk Pankow eine Eierlikör-Firma besaß. Von 1901 bis 1903 besuchte Mia in Berlin die Strahlendorfsche Handelsschule. In welcher Straße sich die Schule befand, weiß ich leider nicht mehr.
Nach ihrer Ausbildung war Mia zunächst als Englischkorrespondentin tätig. Im Jahr 1911 kam sie zur Firma AEG, der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, die Turbinen, Haushaltsgeräte und vieles mehr herstellte. Ihr Büro befand sich in Berlin-Moabit, in der Huttenstraße. Mia arbeitete sich bis zur Direktionssekretärin hoch. Sie blieb auf diesem Posten, bis sie 1945 aus gesundheitlichen Gründen aus der Firma ausschied und in Rente ging.
Die AEG schenkte ihr 1936 zu ihrem 25. Dienstjubiläum ein Bild des Malers F. Beuermann, das die märkische Landschaft bei Buckow zeigt. Sie ähnelt der Landschaft im Warthebruch.

Ich bewunderte Tante Mia, weil sie als unverheiratete Frau diese gute Stellung erreicht hatte, und war stolz auf meine tolle Tante. Wenn sie nach Limmritz kam, freute ich mich auf sie. Jeden ihrer Besuche erwartete ich ungeduldig. Sie war mein Vorbild. Ebenso wie ich war sie ohne leibliche Eltern frühzeitig auf sich gestellt. Unter solchen Umständen ist man mehr auf seine Umwelt angewiesen und nimmt die anderen Menschen intensiver wahr, weil man von ihnen abhängig ist. Später engagiert man sich mehr im Leben, denn man hat Mitgefühl für die Nöte anderer Menschen entwickelt.
Mia gehörte zu uns und war jederzeit in unserem Haus willkommen. In der Familie wurde sie hochgeachtet. Dennoch begegnete man ihr mit etwas Distanz. Sie war anders als die anderen Frauen, die ihre Kinder aufzogen, ihren Mann und ihren Haushalt versorgten. Mia war liebevoll, herzlich und sehr aktiv. Sie reiste viel, lief Ski und brachte stets neue Anregungen in unser Haus.
Für mich interessierte sie sich von Anfang an. Regelmäßig versorgte sie mich Leseratte mit Literatur. Mia war der Ansicht, daß ich unbedingt etwas Ordentliches lernen sollte. Als ich schließlich Fürsorgerin wurde, war sie begeistert.
Einmal, ich hatte bereits meine Ausbildung als Krankenschwester abgeschlossen, lag Tante Mia im Krankenhaus. Ich besuchte sie in meiner Schwesterntracht. Mia war hingerissen von mir. Später erzählte sie mir, daß sich das Verhältnis der Schwestern und Ärzte zu ihr sofort nach meinem Erscheinen verändert hatte: ››Nachdem sie dich gesehen hatten, waren sie viel freundlicher.‹‹
Als Mia in Berlin lebte, kam sie an den Wochenenden häufig nach Limmritz. Sie besuchte uns zu jedem Geburtstag und zu allen Festen. Oft verbrachte sie auch ihren Urlaub bei uns. Mit dem D-Zug fuhr Mia von Berlin nur anderthalb Stunden bis nach Küstrin. Franz holte sie von dort mit dem Motorrad ab.
Als Zwölfjährige durfte ich zum ersten Mal zu Tante Mia nach Berlin. Für mich war das ein großartiges Erlebnis, eine halbe Weltreise! Mia erwartete mich am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof. Wir fuhren mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Zoo, um ins ››Kaufhaus des Westens‹‹, das berühmte KaDeWe, zu gehen. Bei einem späteren Besuch, ich war gerade vierzehn Jahre alt, besuchte sie mit mir die Operette ››Himmelblaue Träume‹‹. Das war mein erster Theaterbesuch - überwältigend!
Die bildungshungrige Tante Mia wollte mich fördern, damit ich aus dem ländlich-kleinstädtischen Milieu herauskam. Vielleicht verdanke ich es wirklich ihrem Einfluß, daß ich heute in Berlin wohne.
Tante Mia starb 1955 in West-Berlin.

Die Scheune

Fabers wohnten in dem Haus, das Großvater 1895 erbaut hatte. Es war massiv und solide. Trotzdem träumte Franz davon, ein eigenes Grundstück zu besitzen. Deshalb trug er sich jahrelang mit dem Gedanken, etwas Eigenes zu erwerben oder aus Limmritz fortzuziehen.
Lange Zeit erwogen Franz und Anna, in Richtung Berlin zu ziehen. Die Gegend um Strausberg gefiel ihnen gut. Nachdem meine Großmutter 1928 mit dem Kutschwagen verunglückte, entschied Anna, daß sie in Limmritz bleiben sollten. Anna wollte ihre pflegebedürftige Mutter nicht allein lassen. Fabers entschlossen sich, Großmutter das Grundstück abzukaufen, auf dem wir wohnten. Franz ließ Anna ins Grundbuch eintragen.
Auf dem Grundstück befand sich eine Scheune, die nicht genutzt wurde. Mein Großvater hatte sie seinerzeit an einen Bauern zur Lagerung von Getreide verpachtet. Hinter der Scheune spielten Kurt und ich ››Paxeball‹‹ - wir warfen den Ball an die Wand. Seitlich der Scheune befanden sich Pferde- und Kuhstall, dahinter Schweine- und Schafstall und die Remise.
1933 ließ Franz die Scheune zu einem Wohnhaus ausbauen. Im darauffolgenden Winter war sie noch unbewohnt, weil sie nach den Arbeiten trocknen mußte. Am 1. April 1934 war das Haus bezugsfertig.
Die Scheune hatte nun sogenannte Berliner Fenster. Sie unterschieden sich völlig von den im Dorf üblichen Fenstern. Franz hatte lange dafür kämpfen müssen, bevor er vom Bauamt in der Kreisstadt die Genehmigung dafür bekam. Unterkellert war das Gebäude ohnehin. Großvater hatte seinerzeit solide gebaut.
Im Erdgeschoß befanden sich nun eine Dreizimmer- und eine Einzimmerwohnung, beide mit Küche. Eine weitere Zweizimmerwohnung wurde im Dachgeschoß eingerichtet. Die Küche und ein kleines Zimmer hatten schräge Wände. In diese Dachwohnung zog eine Witwe mit ihrer Tochter ein. Das Mädchen war nur ein paar Jahre älter als ich.
Bisher hatte es nur ein Klo auf dem Hof gegeben. Nun ließen Onkel Franz zusätzlich eine Toilette für zwei Parteien einbauen.
Eines Tages kamen Fabers auf die Idee, im ehemaligen Pferde- und Kuhstall eine Schrotmühle einzurichten. In Limmritz, das immerhin anderthalbtausend Einwohner hatte, gab es keine Mahlmühle. Die nächste war sieben Kilometer entfernt.
Franz Faber ließ sich über die Wirtschaftlichkeit einer solchen Mühle beraten und entschied sich dafür, den Versuch zu wagen. So entstand auf dem Faberschen Grundstück eine elektrische Schrotmühle. Franz nahm Verbindung zum Müllermeister Schulz aus der Gegend auf. Herr Schulz war einverstanden, die Mühle zu pachten und sich damit selbständig zu machen.
Herr Schulz siedelte mit seiner Frau und seinem fünfjährigen Sohn nach Limmritz über. Die Familie zog ins Erdgeschoß der rekonstruierten Scheune und bewohnte die Dreizimmerwohnung. In der anderen Wohnung im Erdgeschoß lebte das alte Ehepaar Golze.
Am 6. Februar 1938 starb meine Großmutter. Sie hatte seit 1925 im Ausgedinge gelebt. Nach ihrem Tod wurde die Wohnung an Hollmanns vermietet. Dieses Ehepaar war von Berlin nach Limmritz gezogen, um als Rentner noch ein paar beschauliche Jahre auf dem Land zu verbringen.
Allmählich wurde die Frage nach Erben aktuell. Da Fabers kinderlos waren, kamen meine Schwester Gerda und ich in Frage. Außerdem waren da noch Martha und Karl Wolf, die Kinder von Annas ältester Schwester. Wir wären also vier Erben gewesen.
1934, als ich zehn Jahre alt war, setzten Fabers allerdings ein Testament zu meinen Gunsten auf. Es wies mich als einzige Erbin aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte alles anders kommen.

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Folge 7: Das Guse-Haus
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

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Nicht weit von unserem Haus in Limmritz entfernt, in der Bruchstraße 14, stand das Haus der Familie Guse. Dort kam mein späterer Mann Kurt am 15. April 1922 zur Welt, und dort verbrachte er seine ersten Lebensjahre. Sein Vater war Gastwirt. Er führte das ››Deutsche Haus‹‹. In dem Gebäude befanden sich ein Tanzsaal und drei Gästezimmer. Davor wuchs ein herrlicher Kastanienbaum. Er breitet dort noch heute seine prächtige Krone aus.
Wenn ich Reisegruppen nach Limmritz führe, zeige ich ihnen den altehrwürdigen Baum. Das Gusesche Haus wurde hingegen zerstört.

Hermann Guse, Kurts Vater, wurde am 21. September 1889 geboren. Frieda Guse, geborene Vorwerk, kam am 19. Februar 1896 zur Welt. Sie heirateten im November 1919 in Drossen.
Hermann war ein liebenswerter Mann. Da er die Freiwillige Feuerwehr organisierte und selbst Feuerwehrmann war, kam er viel im Dorf herum. Frieda, eher zurückhaltend, ließ die Menschen nicht so dicht an sich heran. Kurt war ihr einziges Kind. ››Ich kann mich nicht daran erinnern, daß meine Mutter mich jemals in den Arm genommen hätte‹‹, erzählte Kurt später.
Kurts Großmutter war hingegen ebenso wundervoll wie meine. Sie lebte im Guseschen Haushalt. Hatte Kurt sich einen Dreiangel in seine Hose gerissen, ging er zur Großmutter. Sie flickte ihm seine Sachen.

In Limmritz gab es drei Gasthäuser. Wenn im Dorf große Feste veranstaltet wurden, wechselten sie sich mit der Bewirtung ab.
So war es auch beim Schützenfest. Gastwirt Guse ließ im Wald, an einer romantischen Quelle, einen Getränkestand aufbauen. Ein anderes Gasthaus richtete am Abend den Schützenball aus. Im nächsten Jahr wurde getauscht, und Hermann Guse war für den Schützenball verantwortlich.
Das Schützenfest war für uns Limmritzer wohl das größte Ereignis des Jahres. Da versammelte sich Jung und Alt. Kleine Mädchen eilten herbei, Jugendliche, Mütter und Väter und ältere Leute.
Am späten Nachmittag kehrte der Schützenkönig aus dem Wald ins Dorf zurück. Der Zweitplazierte begleitete ihn. Ihnen folgten junge Mädchen in weißen Gewändern. Sie trugen Schärpen aus Eichenblättern. Es dauerte eine halbe Stunde, bis diese Prozession im Dorf angekommen war. Nach ihrem Eintreffen wurde der Schützenball gefeiert. Wir Kleinen durften noch nicht ins Gasthaus. Wir hockten uns aufs Fensterbrett und linsten in den Tanzsaal.

Im Dorf gab es mehrere Vereine. Für den Theaterverein malte Franz Faber die Kulissen, und der Lehrer stellte die Texte zusammen. Im Turnverein trafen sich die Handwerker. Für die freiwillige Feuerwehr war Hermann Guse mitverantwortlich. Da die Limmritzer das Vereinsleben liebten, wurde ständig irgendein Vergnügen organisiert.
Als ich vierzehn Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zum ersten Mal auf einen Ball mit. Es kostete mich einige Überwindung. Ich war zu schüchtern, um an solchen Vergnügen Gefallen zu finden. Franz tanzte auch nicht gern. Meine Mutter Anna hingegen war eine leidenschaftliche Tänzerin.

1939 brach der Krieg aus. Erst nachdem Hitler über Polen gesiegt hatte, durften wieder Bälle veranstaltet werden. Zu meiner Erleichterung gab es aber keine Tanzstunden mehr
- jedenfalls nicht in Küstrin.
Einmal tanzte ich in Guses Gasthaus mit Kurt. Für die Leute im Dorf stand fest, daß wir einander versprochen waren. Unsere Familien hätten wohl nichts gegen eine Heirat eingewandt. Sie wäre durchaus standesgemäß gewesen.
Zu jener Zeit begann das Leben auf dem Land sich zu verändern. Trotzdem gab es noch starke Bindungen, und althergebrachte Traditionen wurden gepflegt. Jeder kannte jeden. Man wußte alles über den Nachbarn, vor allem, wieviel Geld und wieviel Land er besaß. Wenn eine Ehe geschlossen wurde, spielte das Vermögen der beiden Partner eine bedeutende Rolle.
Eine meiner Freundinnen war mit einem jungen Mann liiert. Die beiden hätten gern geheiratet, aber die Mutter des Mannes war dagegen. ››Das Mädchen hat nicht genug Geld!‹‹ sagte sie. Daraufhin trennte er sich von ihr. Ein halbes Jahr später verlobte sich derselbe Mann mit einer anderen Freundin von mir. Sie kam aus einer begüterten Familie und hatte eine gute Aussteuer zu erwarten. Die beiden heirateten und führten eine glückliche Ehe, die mehr als fünfzig Jahre hielt.
So war das damals. Wir hatten uns dem Willen unserer Eltern zu fügen. Die Ehen wurden oft aus Gründen der Vernunft geschlossen. Das war keineswegs nur nachteilig.
Kurts Mutter hatte seinerzeit viel Geld mit in die Ehe gebracht. Ihr Vater besaß ein kleines Gut. Ich war mir nicht sicher, ob sie der Heirat von Kurt und mir zugestimmt hätte.
Als ich Jahrzehnte später endlich mit Kurt verheiratet war, fragte ich ihn: ››Was hätte deine Mutter wohl dazu gesagt, daß du mich nehmen willst?‹‹
Kurt zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete. ››Sie hätte sicher gesagt: ›Kochen kann sie gut, und ein Grundstück besitzt sie auch, also kannst du sie nehmen.‹ ‹‹ Das waren Kriterien, nach denen die Leute früher heirateten.

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Donnerstag, 19. April 2007
Folge 6: Die beiden Mütter
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

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Von 1930 bis 1932 besuchte ich die Dorfschule in Limmritz. Als ich sieben Jahre alt war, sagte meine Lehrerin Fräulein Fiebig zu meiner Großmutter: ››Sie müssen Lotte in eine andere Schule nach Küstrin geben. Dort leben doch auch ihre Eltern. Hier in der Dorfschule ist sie unterfordert. Sonst sehe ich nur die Möglichkeit, daß ein Lehrer für sie Förderstunden abhält!‹‹
Ich war zwar nicht hochbegabt, doch ich lernte schnell und hatte viel Spaß am Unterricht. Obwohl meine geliebte Großmutter, Onkel Franz und Tante Anna baten und bettelten, daß ich bleiben sollte, zog es mich in die neue Schule nach Küstrin.
Weihnachten 1931 wurde ein großer Familienrat einberufen. Dazu gehörten meine leiblichen Eltern, Fabers, meine Großmutter und meine Lieblingstante Mia aus Berlin. Sie überlegten lange, ob sie mich in einem Internat oder bei einer Familie unterbringen sollten. Das war so üblich. In der Militärstadt Küstrin wohnten viele Kinder aus den umliegenden Dörfern bei Offizierswitwen.
Nach langen Diskussionen entschied mein Vater Otto energisch: ››Lotte kommt zu uns!‹‹
Ich zog mit Begeisterung nach Küstrin. Groß und stark schienen meine Flügel zu sein. Ich bedachte nicht, wie sehr mich die geliebten Menschen vermissen würden.
Meine Freude in Küstrin dauerte nur kurze Zeit. Bald wurde mir bewußt, in welch zerrissener Familie ich von nun an leben sollte. Ich wohnte zwar bei meinen leiblichen Eltern, aber ich hatte sie bislang kaum kennengelernt. Als sie mich 1924 nach Limmritz weggegeben hatten, war ich erst sieben Monate alt, zu jung, um mich an sie zu erinnern. Später waren wir uns immer nur kurz begegnet, wenn sie zu Besuch nach Limmritz kamen.
Mit ihnen zusammenzuleben, war etwas anderes. Mir wurde schnell klar, daß ihre Ehe nicht glücklich war. Ich erkannte die Dunkelheit und die Lieblosigkeit in ihrem Leben - und in meinem Elternhaus. Wie sehr vermißte ich die Liebe und die Harmonie, die mein Leben in Limmritz geprägt hatten! Wo war meine alte Heimat geblieben? Meine Flügel sanken herab. Ich sehnte mich so sehr nach meiner Großmutter-Mutter, nach Anna und Franz.
Mein Vater Otto ging an den Abenden aus dem Haus. Meine Mutter schimpfte. Zu recht? Zu unrecht? Ich konnte es nicht herausfinden. Nachts hörte ich Worte, die voller Grauen waren. Der Zwiespalt brach auf - der Zwiespalt zwischen Vater und Mutter. Warum stritten sie sich? Warum liebten sie sich nicht? Ich ängstigte mich. Meine jüngere Schwester Gerda konnte mich nicht trösten. Sie schlief in ihrem Bett und schien von dem Streit nichts zu bemerken. Aber ich, das stille Kind, war von dem Wortgefecht erwacht. Ich erkannte die dunklen Kräfte ihrer Herzen, vor denen ich mich fürchtete.
Welch entsetzliche Offenbarung! Wie konnte ich hier nur leben? Ich, die ich aus Limmritz Wärme und Fröhlichkeit gewohnt war! Ich sehnte mich nach meiner geliebten Heimat. Aber es gab keine Umkehr mehr, keine Rückkehr zu Geborgenheit, Wärme und Liebe.
Vater bemühte sich um mein Wohlbefinden. Er wollte, daß ich mich schnell einlebte. Deshalb schenkte er mir einen Puppenwagen. Meine Eltern lebten inzwischen in guten Verhältnissen. Schließlich gehörte Vater als Handwerksmeister zum Mittelstand. Ihre wirtschaftliche Lage hatte sich stabilisiert. Meine Mutter war trotzdem geizig. Wenn ich ein Schulheft brauchte, mußte ich mehrmals fragen, ehe sie mir die zwanzig Pfennig gab. Sie trug das Geld lieber zur Sparkasse.
In Küstrin besuchte ich zusammen mit meiner Schwester von 1932 bis 1934 die Volksschule. Gerda war hier mit sechs Jahren eingeschult worden. Als Zehnjährige wechselte ich auf die Mittelschule. Sie war ein Ort der Freude und des Friedens. Dort konnte ich alles vergessen, was mein Herz betrübte.
Ich war ein ängstliches Mädchen. Auf meinen Schulzeugnissen steht ››freundlich, aber sehr still‹‹. Ich hatte das Glück, daß mich meine Englischlehrerin förderte und mich persönlich ansprach. Frau Gülke trug viel dazu bei, daß ich etwas aus mir herausging. Diese Lehrerin wurde mir eine liebe Tante, meine Nenn-Tante. Später duzten wir uns sogar.
Zum Glück konnte ich mit der Kleinbahn bald allein die 23 Kilometer von Küstrin in die Heimat reisen. In Limmritz nutzte ich jede Stunde. Sonntags fuhr ich erst mit der letzten Bahn zurück. Während der Schulzeit fuhr ich fast jedes Wochenende nach Limmritz. Auch sonst nutzte ich jede Gelegenheit, die sich dazu bot. Ich wollte beides: in Küstrin zur Schule gehen und die Harmonie des Elternhauses in Limmritz genießen. Elternhaus - dieses Wort benutze ich, obwohl Franz und Anna in diesem Alter noch Onkel und Tante für mich waren.
An jedem Tag in Küstrin sehnte ich die Ferien bei meinen geliebten Menschen herbei. Helles Leuchten waren die Sonntage in Limmritz. Mit Sonne und Kraft beschenkt kehrte ich nach Küstrin zurück. Dort gab es nur einen Lichtschimmer: die Mittelschule für Mädchen, die ich bis 1940 besuchte. Dort erwarb ich die mittlere Reife.
Vor den großen Ferien überfiel mich regelmäßig seelischer Kummer. Ich begann, am Essen zu mäkeln, und große Lustlosigkeit erfaßte mich, weil ich nicht länger in Küstrin bleiben wollte. Ich dachte nur an eines: ›Du mußt hier raus!
Die Atmosphäre im Elternhaus erträgst du nicht!‹
Vieles läßt sich nicht in Worte fassen.
Ich habe mir stets einen Reif um die Seele gelegt, tief geatmet und gedacht, ich kann über das, was in Küstrin geschah, nicht sprechen. Dieses Schweigen bedrückte mich oft - zum einen, weil ich nicht über meinen Schatten springen konnte, zum anderen, weil ich so viel Unverarbeitetes mit mir herumschleppte.
In Limmritz hingegen war ich glücklich, aber auch dort gelang es mir nie, ganz aus mir herauszukommen. Nur beim Schreiben konnte ich mich öffnen - und das tat ich gern.

Hedwig und Anna waren Menschen, wie man sie sich gegensätzlicher nicht vorstellen kann. Anna, die jüngere Schwester, war eine fröhliche Frau. An meinem Schrank hängt noch der Text des Liedes, das sie morgens gern nach dem Aufstehen sang: Oh du klarer blauer Himmel, wie schön bist du heut!
In ihrer Ehe war Anna die etwas Dominantere und Franz der Gütige. Sie ergänzten sich fabelhaft. Mit Onkel Franz verstand ich mich besonders gut. Tante Anna war ein wenig streng. Sie wollte mich zu einer guten Hausfrau erziehen. Noch wichtiger war ihr wohl, daß wir alle miteinander glücklich waren.
Meiner leiblichen Mutter fehlte jegliche Fröhlichkeit. Sie verbrachte ihre Zeit überwiegend zu Hause. Trotzdem widerstrebt es mir zu sagen, sie sei eine Hausfrau gewesen. Im eigentlichen Sinne war sie es nicht. Sie führte den Haushalt eher widerwillig, kaum mit System.
Meine Mutter war Zeit ihres Lebens depressiv und litt oft unter Migräne. Sie war ein schwieriger Mensch. Im nachhinein glaube ich, daß sie häufig darüber nachdachte, sich das Leben zu nehmen.
Natürlich hungerten wir nicht. Sie versorgte uns, und meine Schwester und ich wurden nicht geschlagen. Aufmerksamkeit und Liebe schenkte sie uns allerdings auch nicht.
Wenn ich aus der Schule kam, hatte meine Mutter ein Buch in der Hand. Ich weiß nicht mehr, welche Schriftsteller sie bevorzugte. Vermutlich mochte sie Unterhaltungsliteratur. Sie las und las und dachte gar nicht daran, Mittagessen zu kochen. Warme Gerichte bekamen wir selten. Mein Vater schickte uns Tag für Tag Kuchen oder Brötchen aus der Bäckerei. Lebensmittel gab es also im Haus, aber niemanden, der sich für uns an den Herd stellte.
Mutter war nachlässig. Ihr Motto war wohl: ››Kommst du heut nicht, kommst du morgen!‹‹ Außerdem war sie ein wenig geizig. Ich erinnere mich, daß ich im Winter oft nur eine Kerze anzünden durfte, wenn ich meine Schularbeiten erledigte. Bei diesem schlechten Licht zeichnete ich meine geometrischen Figuren, lernte Vokabeln und Gedichte oder schrieb Aufsätze. Meine Mutter fand es wohl ausreichend, daß im anderen Zimmer oder in der Küche eine Glühbirne brannte. Aber da, wo sie arbeitete, konnte ich mich kaum auf meine Schularbeiten konzentrieren.
Meine Mutter hantierte meist in der Küche oder kümmerte sich um unsere schmutzige Kleidung. Sie wusch häufig. Diesen Tick habe ich von ihr übernommen. Wir besaßen noch keine Waschmaschine. Hosen, Röcke und Laken mußten in der Waschküche in einem großen Kessel gekocht werden. Sie befand sich ganz oben unterm Dach. Und wir wohnten parterre ...
Meine Mutter versorgte uns Kinder, aber sie tat es gewiß nicht gern. Sie hatte eine düstere Ausstrahlung. Als ich älter wurde, befürchtete ich, ich könnte die Anlagen meiner Mutter geerbt haben. Ich bin ein wenig introvertiert. Unter dieser Vorstellung habe ich regelrecht gelitten.
Deshalb war es für mich wichtig, daß ich Menschen fand, die mir Rückhalt gaben und versuchten, meine Fähigkeiten und charakterlichen Stärken zu fördern. Ich weiß, daß ich mehr zu Moll als zu Dur neige. Das habe ich schon zeitig erkannt und mich bemüht, daß diese Seite in meinem Leben nicht Überhand nimmt. Auf der einen Seite gab es Dunkelheit und Betrübnis, auf der anderen Sonne und Freiheit.
Ich fühlte mich nie von meinen Eltern eingeengt oder ungerecht behandelt. Wenn es hieß: ››Bis halb zehn bist du zu Hause!‹‹, machte mir das nie etwas aus. Ich bin diszipliniert und kann mich an solche Vorschriften halten. Was mich störte, war etwas anderes: In Limmritz gab es nicht nur ein größeres, freies Feld, es gab auch mehr Sonne!
Die Schwierigkeiten dieses Lebens in Küstrin ergaben sich aus dem konfliktreichen Verhältnis meiner leiblichen Eltern. Diese beiden Menschen liebten sich nicht. Mein Vater kam oft erst spät nach Hause. Er und meine Mutter hatten fürchterlich Krach. Ich weiß nicht, ob Vater je andere Frauen hatte.
Wenn Kinder hören, wie sich ihre Eltern streiten und beschimpfen, ist das grauenhaft. Meine Schwester wuchs damit auf. Sie kannte nichts anderes, aber ich hatte in Limmritz Harmonie erlebt.
Tante Anna und Onkel Franz lebten in guten Verhältnissen, ebenso wie meine Eltern. Von Großvater hatte Anna eine anständige Aussteuer mitbekommen. Es war nicht üblich, daß Frauen einen Beruf erlernten.
Franz Faber arbeitete nach der Inflation als Generalvertreter verschiedener Firmen in unserem Kreis Sternberg östlich der Oder. Er verkaufte Lacke, Farben und Tapeten. Er malerte nicht mehr.
Schließlich kaufte er das Grundstück seiner Schwiegermutter, also meiner Großmutter. Nun besaß er endlich eigenen Grund und Boden. Annas Vermögen war während der Inflation verlorengegangen. So kam es, daß Franz das gesamte Geld besaß. Er ließ das Grundstück auf den Namen seiner Frau eintragen, so daß Anna Faber die Besitzerin war.
Anna und Franz Faber wollten gern eigene Kinder, aber sie konnten keine bekommen. Um so glücklicher waren sie, daß ich im Hause war. Sie schlossen mich in ihr Herz, bemühten sich liebevoll um mich. Später adoptierten sie mich und wurden meine richtigen Eltern.
In Limmritz wurden mir meine Minderwertigkeitskomplexe genommen. Wenn ich an mir zweifelte, sagte Anna einfach: ››Du kannst das!‹‹ Bei ihr erlernte ich zeitig hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Ich gewöhnte mich daran, Verantwortung zu übernehmen. Bei meiner späteren Arbeit half mir das sehr.
Ich las leidenschaftlich gern. Das lag wohl bei uns in der Familie. Sowohl meine leibliche Mutter als auch meine Mutter Anna waren bildungshungrig, obwohl sie nur eine Dorfschule besucht hatten.
Ständig durchstöberte ich die nette, kleine Bibliothek von Franz. Besonders interessierte ich mich für Geschichte. Schon mit zehn Jahren las ich ein Buch über die Belagerung Magdeburgs. Ich lauschte gern den Schilderungen von Franz, der spannend über historische Ereignisse erzählen konnte.
Wegen meiner Leselust befand sich Anna im Zwiespalt. Einerseits begrüßte sie meinen Bildungshunger, andererseits erschien ihr meine Begeisterung ungeheuerlich. ››Aber nur für eine Stunde!‹‹ mahnte sie, wenn ich nach einem Buch griff. Anna wollte wohl nicht, daß ich mich so in die Literatur vertiefte wie meine leibliche Mutter. Sie verband damit unangenehme Erinnerungen.
Hedwig las ständig, wo sie ging und stand. Sie widmete sich auch ihrer Lektüre, wenn die Familie sonntags mit der Kutsche ausfahren wollte.
››Mach schon, der Wagen ist angespannt!‹‹ rief Großvater.
››Ja, ja, ich komme gleich‹‹, antwortete Hedwig. Statt in den Wagen einzusteigen, blieb sie mit ihrem Buch im Zimmer sitzen. Drei Stunden später setzte sie sich endlich in Bewegung. Der Wagen war weg, das Fahrrad war weg, und Hedwig mußte hinterdrein trotten.

Anna war eine tadellose Hausfrau. Ein Verhalten wie das ihrer Schwester wäre ihr natürlich ein Dorn im Auge gewesen. Ich, Hedwigs Tochter, sollte nicht so werden wie meine Mutter. Anna wollte mich gut erziehen.
Ich las natürlich trotzdem. An den langen Sommerabenden war das kein Problem. Im Winter nahm ich eine Taschenlampe mit ins Bett, denn der Lichtschalter für mein Zimmer befand sich unten im Hausflur. Es war mir nicht erlaubt, mich nach dem Zubettgehen noch mit einem Buch zu beschäftigen. Manchmal überschritt ich das eine oder andere Verbot.

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Freitag, 6. April 2007
Folge 5: Wo ist denn Tante Anna?
Allein die Stunde zählt - Buchtitel

Mein Buch bei Rohnstock Biografien
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Seit ich denken kann, verbrachte ich viel Zeit mit Fabers. Sobald ich dem Blick meiner Großmutter entwischen konnte, stahl ich mich aus der Wohnung und eilte zu ihnen hinüber. Großmutter wußte natürlich, wo ich war.
Ich besaß eine kleine Pelerine und dazu ein Samtmützchen mit blauen Schleifenbändern. Die Pelerine hängte ich mir im Winter über und huschte schnell über den Hof zu Tante und Onkel. Es war unmöglich, zu Anna und Franz zu gelangen, ohne das Haus verlassen zu müssen, da sie die Zwischentür zum kleinen Zimmer hinter der Küche mit ihrem Küchenschrank zugestellt hatten, um Platz zu gewinnen.
Niemals vergesse ich, wie Anna mir zur Schummerstunde Märchen erzählte oder Lieder vortrug. Sie hatte eine schöne, helle Stimme und sang leidenschaftlich gern, auch im Kirchenchor. Anna nähte auch gut. Sie schneiderte meine gesamte Kleidung.
Als Großmutter fünf Monate nach dem schlimmen Unfall endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte sie nur noch am Stock gehen. Sie war auf Hilfe angewiesen und wurde daher von ihrer Tochter Anna versorgt.
Nun, ab 1928, wuchsen wir endgültig zu einer Großfamilie zusammen. Wir hatten zwar zuvor schon unter einem Dach gelebt, aber die Haushalte waren getrennt gewesen. Jetzt wirtschafteten wir zusammen und nahmen alle Mahlzeiten gemeinsam ein. Dadurch entstand eine noch engere Beziehung zu Fabers.
Als ich bereits in Küstrin wohnte, wurde in Limmritz für mich ein eigenes Zimmer eingerichtet, die ››Oberstube‹‹ im Giebel des Hauses. Sie befand sich zwischen zwei Bodenkammern. Ich wohnte dort, wenn ich Großmutter besuchte, die zu dieser Zeit noch hinfälliger wurde.
Mein Zimmer war mit zwei Betten ausgestattet - eines für mich, das andere für meine Tante Mia aus Berlin oder für eine Freundin, die regelmäßig zu uns kam.
In einer der Bodenkammern stand eine große Truhe mit dem, was für meine Aussteuer gesammelt wurde. In der anderen Kammer befanden sich Vorräte. Meine Mutter Anna bewahrte dort einen Zentner Zucker auf, einen Zentner Mehl und vieles andere.

Ich bin ein anpassungsfähiger Mensch. Nur ein einziges Mal handelte ich mir bei meinem Vater Otto Schläge ein. Ich mußte ein paar Wochen in Küstrin bleiben, da meine Fabers Scharlach hatten. Meine Mutter befand, daß mein Haar zu lang sei. ››Es kostet zuviel Zeit und Mühe, dich zu frisieren‹‹, sagte sie. Vater griff nach der Schere.
››Ich will nicht!‹‹ brüllte ich. ››Ich will meine langen Haare behalten!‹‹
Vater gab mir eine schallende Ohrfeige. Die Haare blieben dran.
Anna schlug mich nicht. Sie hatte andere Erziehungsmethoden, die härter waren als Prügel. Wenn ich etwas ausgefressen hatte, sperrte sie mich hinter die Kellertür. Soweit ich mich erinnern kann, kam das nur zweimal vor. Wofür ich bestraft wurde, weiß ich nicht mehr. Von unserem großen Flur führte eine Treppe hinab zum Keller. Davor befand sich auf einer Art Podest die Tür. Auf dem Podest stellten Fabers Besen und andere Gerätschaften ab. Dahinter mußte ich Buße tun.
Es war furchtbar! Anna wartete auf der anderen Seite. Ihr Herz klopfte wohl so laut wie meines. Ihr gefiel die Situation ebensowenig wie mir. Aber sie wollte mir auf keinen Fall einen Klaps geben.
››Bitte entschuldige!‹‹ sagte ich schließlich. ››Ich will es nicht wieder tun!‹‹
Es gab auch eine Rute aus Weidenzweigen. Sie lag auf einem Brett, das unter dem Oberlichtfenster an der Tür angebracht war. Die Rute sah man, wenn man die Wohnung betrat. Selten kam es vor, daß ich nicht brav war. Dann zeigte mir Anna diese Rute.
Als ich erwachsen war, betonten Fabers ständig: ››Lottchen war ein braves Kind!‹‹ Ich mag das Wort brav nicht. Ich glaube, daß ich als Kind eher angepaßt und pflegeleicht war. Ich konnte schon mit drei Jahren das Vaterunser aufsagen und Gedichte vortragen, ehe ich zur Schule kam. Eines meiner Lieblingsgedichte stammt von Hoffmann von Fallersleben. Ich kann es noch heute:

Ich lag und Ich lag und schlief,
da träumte mir ein wunderbarer Traum,
es stand vor mir auf unserem Tisch
ein großer Weihnachtsbaum und goldene Äpfel ...

Meine Mutter Anna war eine temperamentvolle und phantasiebegabte Frau, die bei Familienfesten gern etwas zum besten gab. Ich war dagegen schüchtern. Ich traute mich nie, Gästen etwas vorzuführen. Wenn Bekannte und Verwandte kamen und ich ein Gedicht aufsagen sollte, kroch ich schnell unter den Tisch. Als mich Anna wieder einmal bat, den Gästen etwas vorzutragen, hockte ich mich unter den Tisch und sagte dort das Vaterunser auf.
Aus der Adventszeit ist mir eine Geschichte in Erinnerung geblieben. In unserer Familie wurde sie später oft erzählt. An jenem Abend in der Vorweihnachtszeit, von dem die Rede sein soll, war ich bei der Großmutter. Es war bereits dunkel. Wir warteten gespannt auf den Nikolaus.
Plötzlich hörte ich Schritte. Jemand klopfte an die Tür. Großmutter öffnete. Mit großen Augen erkannte ich, daß es der Nikolaus war. Als er mit seinem Pelzmantel und dem weißen Bart vor mir stand, bekam ich es doch mit der Angst zu tun.
››Warst du artig, mein Kind?‹‹ fragte er. ››Kannst du mir ein Gedicht aufsagen?‹‹
Ich klammerte mich an meine Großmutter und zupfte an ihrem Rock. ››Wo ist denn Tante Anna?‹‹ fragte ich unaufhörlich.
››Die ist Milch holen gegangen bei Meilickes!‹‹ antwortet Großmutter mit einer Stimme, die mir merkwürdig unsicher vorkam. Meilickes waren unsere Milchbauern.
Was hatte Tante Anna ausgerechnet am Abend vor Weihnachten bei denen zu suchen? ››Ich sage erst etwas auf, wenn sie wieder da ist‹‹, entschied ich. ››Tante Anna soll das miterleben!‹‹
Der Nikolaus mußte schallend lachen. Er lachte so sehr, daß er mir ganz schnell meine Gaben überreichen mußte. Dann machte er, daß er fortkam.
Natürlich steckte meine geliebte Anna hinter dieser Maske. Sie amüsierte sich köstlich über meine Schüchternheit.

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